Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
wimmelte, und ich verstand beim besten Willen nicht, worauf er darin eigentlich hinauswollte. Nicht eine Seite leuchtete mir ein. Ich versuchte es, aber ich fand mich durch seine Satzungetüme einfach nicht durch. Ich konnte nicht einmal sagen, ob mein mangelndes Verständnis an der Schwierigkeit des Inhalts lag oder daran, daß das Buch schlecht geschrieben war. Die Leute vom Fach fanden es allerdings hervorragend. Ein Rezensent erklärte, dies sei »eine bahnbrechend neue Betrachtungsweise eines bahnbrechend neuen ökonomischen Konzepts«, aber das war auch so ziemlich das einzige, was ich von der Rezension verstand. Bald bemächtigten sich die Medien seiner und lancierten ihn als »Helden einer neuen Zeit«. Ganze Monographien erschienen, die sein Buch interpretierten. Zwei Termini, die er geprägt hatte, »Sexualökonomie« und »Exkretionsökonomie«, wurden zu den Schlagwörtern des Jahres. Zeitungen und Zeitschriften feierten ihn als einen der Vordenker des neuen Zeitalters. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auch nur einer dieser Journalisten verstanden hatte, was Noboru Wataya in seinem Buch sagte. Ich hatte sogar meine Zweifel, ob sie es überhaupt je aufgeschlagen hatten. Aber das interessierte keinen. Noboru Wataya war jung, unverheiratet und intelligent genug, um ein Buch zu schreiben, das niemand verstand.
    Es machte ihn berühmt. Die Zeitschriften rissen sich um kritische Beiträge aus seiner Feder. Das Fernsehen brachte seine Kommentare zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Fragen. Schon bald war er ständiges Mitglied der Expertenrunde einer politischen Diskussionssendung. Diejenigen, die Noboru Wataya kannten (darunter Kumiko und ich), hätten nie gedacht, daß er das Zeug zu einer so öffentlichkeitsorientierten Tätigkeit haben könnte. Jeder hatte ihn für einen einzelgängerischen, ausschließlich an seinem engen Fachgebiet interessierten Universitätsmenschen gehalten. Aber kaum hatte er in die Welt der Massenmedien hineingeschnüffelt, konnte man förmlich sehen, wie er sich die Lippen leckte. Er war gut. Er war nicht im mindesten kamerascheu; er schien sich vor laufenden Kameras sogar mehr in seinem Element zu fühlen als in der wirklichen Welt. Staunend verfolgten wir seine plötzliche Metamorphose. Der Noboru Wataya, den wir im Fernsehen sahen, trug teure Anzüge mit tadellos passenden Krawatten und schildpattgerahmte Designer-Brillen. Sein Haarschnitt entsprach der neusten Mode. Er war offensichtlich durch die Hände eines Profis gegangen. Ich hatte ihn noch nie solchen Luxus ausstrahlen sehen. Aber selbst wenn er vom Sender ausstaffiert worden war, führte er sein gestyltes Äußeres vollkommen unbefangen vor, als habe er sich sein Leben lang nie anders gekleidet. Wer ist dieser Mann? fragte ich mich, als ich ihn das erste Mal sah. Wo steckt der wirkliche Noboru Wataya?
    Vor den Kameras spielte er die Rolle eines Mannes, der nicht viele Worte macht. Wurde er nach seiner Meinung gefragt, äußerte er sie schlicht, klar und prägnant. Wenn die Debatte heißzulaufen begann und alle anderen sich gegenseitig zu überschreien versuchten, blieb er gelassen. Wurde er angegriffen, hielt er sich zurück, ließ seinen Gegner ausreden und vernichtete dann dessen ganze Argumentation mit einem einzigen Satz. Er beherrschte die Kunst, den tödlichen Schlag mit sanfter Geste und lächelnder Miene auszuführen. Auf dem Bildschirm wirkte er weit intelligenter und vertrauenswürdiger als der echte Noboru Wataya. Ich weiß nicht genau, wie ihm das gelang. Als gutaussehend konnte man ihn nicht bezeichnen. Aber er war groß und schlank und wirkte kultiviert. Im Fernsehen hatte Noboru Wataya sein Wirkungsfeld gefunden. Die Massenmedien nahmen ihn mit offenen Armen auf, und er warf sich ihnen an die Brust. Mittlerweile konnte ich ihn - gedruckt oder im Fernsehen - nicht mehr ertragen. Sicher, er war ein begabter, fähiger Mann. Das erkannte ich durchaus an. Er wußte, wie man einen Gegner mit einem Mindestmaß an sprachlichem Aufwand schnell und effektiv fertigmacht. Er hatte einen animalischen Instinkt, der ihm untrüglich verriet, woher der Wind wehte. Klopfte man aber seine mündlichen oder schriftlichen Äußerungen aufmerksam ab, merkte man, daß seinen Worten jegliche Substanz fehlte. Sie waren kein Ausdruck einer bestimmten, auf echter Überzeugung basierenden Weltanschauung. Seine Welt war ein Konstrukt aus mehreren eindimensionalen, begrifflichen Systemen. Diese Elemente konnte er ganz nach

Weitere Kostenlose Bücher