Mister Aufziehvogel
nein, sagte ich. Ich sei noch nie auf Kreta gewesen und beabsichtige auch nicht, in naher Zukunft dorthin zu fahren.
»Ich würde gern einmal dorthin fahren«, sagte Kreta Kano nickend und mit todernstem Gesicht. »Kreta ist die griechische Insel, die Afrika am nächsten liegt. Es ist eine große Insel, und vor langer Zeit blühte dort eine große Kultur. Meine Schwester Malta ist auch auf Kreta gewesen. Sie sagt, es sei wunderschön dort. Der Wind ist stark und der Honig köstlich. Ich liebe Honig.«
Ich nickte. Ich mache mir nicht viel aus Honig.
»Ich habe Sie heute aufgesucht, um Sie um einen Gefallen zu bitten«, sagte Kreta Kano. »Ich würde gern eine Probe des Wassers in Ihrem Haus nehmen.«
»Des Wassers?« fragte ich. »Sie meinen, aus dem Wasserhahn?«
»Das würde genügen«, sagte sie. »Und sollte es zufällig einen Brunnen in der Nähe geben, würde ich auch daraus gern eine Wasserprobe nehmen.«
»Ich glaube nicht. Ich meine, es gibt tatsächlich einen Brunnen in der Umgebung, aber er befindet sich auf einem Privatgrundstück, und er ist trocken. Er spendet kein Wasser mehr.«
Kreta Kano warf mir einen undurchdringlichen Blick zu. »Sind Sie sicher?« fragte sie. »Sind Sie sicher, daß er kein Wasser mehr enthält?«
Ich erinnerte mich an das trockene Geräusch, mit dem der Ziegelbrocken, den das Mädchen in den Brunnen des leerstehenden Hauses geworfen hatte, unten aufgeprallt war. »Ja, er ist trocken, völlig. Ich bin mir absolut sicher.«
»Ich verstehe«, sagte Kreta Kano. »Sehr schön. Dann werde ich nur eine Probe des Leitungswassers nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Ich führte sie in die Küche. Sie öffnete ihre weiße Lackledertasche und holte zwei Fläschchen von der Art heraus, wie man sie etwa für Arzneien verwendet. Sie füllte eines davon mit Wasser und schraubte den Deckel sorgfältig zu. Dann sagte sie, sie wolle auch eine Probe aus dem Hahn der Badewanne nehmen. Ich führte sie ins Badezimmer. Ohne sich an der Unterwäsche und den Strümpfen zu stören, die Kumiko dort zum Trocknen aufgehängt hatte, drehte Kreta Kano den Wasserhahn auf und füllte das zweite Fläschchen. Nachdem sie es verschlossen hatte, hielt sie es falsch herum, um sich zu vergewissern, daß es nicht tropfte. Die Schraubdeckel waren unterschiedlich gefärbt: blau für das Badewasser und grün für das Wasser aus der Küche.
Nachdem sie sich wieder auf das Wohnzimmersofa gesetzt hatte, steckte sie die beiden Fläschchen in einen kleinen Gefrierbeutel und zog dessen Reißverschluß zu. Den Beutel verstaute sie sorgfältig in ihrer weißen Lackledertasche und verschloß diese dann mit einem trockenen metallischen Schnapp. Ihre Hände bewegten sich sparsam und effizient. Sie hatte das ganz offensichtlich schon viele Male getan.
»Vielen herzlichen Dank«, sagte Kreta Kano.
»War das alles?« fragte ich.
»Für heute ja«, sagte sie. Sie strich sich den Rock glatt, schob sich die Handtasche unter den Arm und machte Anstalten aufzustehen.
»Einen Moment noch«, sagte ich einigermaßen verwirrt. Ich hatte nicht erwartet, daß sie so schnell wieder gehen würde. »Warten Sie doch bitte noch einen Moment. Meine Frau will wissen, was aus dem Kater geworden ist. Er ist mittlerweile seit fast zwei Wochen verschwunden. Wenn Sie irgend etwas wissen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mir sagen würden.«
Die weiße Handtasche noch immer unter den Arm geklemmt, sah mich Kreta Kano einen Augenblick lang an und nickte dann mehrmals rasch hintereinander. Wenn sie den Kopf bewegte, wippten die nach außen gerollten Enden ihres Haars mit der Beschwingtheit der frühen sechziger Jahre. Wenn sie blinzelte, bewegten sich ihre langen falschen Wimpern so träge auf und ab wie die langstieligen Fächer, die in Pharaonenfilmen die Sklaven schwingen. »Um ehrlich zu sein, sagt meine Schwester, daß das eine längere Geschichte werden wird, als es anfangs ausgesehen hatte.«
»Eine längere Geschichte, als es ausgesehen hatte?«
Die Formulierung »eine längere Geschichte« beschwor in mir das Bild eines hohen Pfahls herauf, der einsam in einer ansonsten vollkommen leeren Wüste stand. Als die Sonne zu sinken begann, wurde der Schatten des Pfahls immer länger und länger, bis seine Spitze sich so weit entfernt hatte, daß sie mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen war.
»Das sind ihre Worte«, fuhr Kreta Kano fort. »In dieser Geschichte wird es um mehr gehen als nur um das Verschwinden eines Katers.«
»Ich
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