Mister Aufziehvogel
anderen als Wesen aus zwei verschiedenen Sphären zu betrachten. Es ist eine Art Begabung (womit ich mich keineswegs brüsten möchte: Es ist nicht leicht zu bewerkstelligen, wenn man es also kann, ist es eine Art Begabung- eine besondere Fähigkeit). Wenn mir jemand auf die Nerven geht, verschiebe ich das Objekt meiner negativen Empfindungen in eine andere Seinsebene, in einen Bereich, der in keinerlei Beziehung zu mir steht. Dann sage ich mir: Schön, ich fühle mich unwohl, aber ich habe die Ursache dieses Gefühls aus dem Hier entfernt und in einen anderen Bereich verschoben, wo ich sie später in aller Ruhe analysieren und abhandeln kann. Mit anderen Worten: Ich friere meine Empfindungen ein. Wenn ich meine Gefühle später wieder auftaue, um diese Analyse vorzunehmen, kommt es zwar gelegentlich vor, daß ich sie noch immer in einem Zustand der Verwirrung vorfinde, aber das ist eher die Ausnahme. Die Zeit entzieht in der Regel den meisten Dingen ihr Gift und macht sie harmlos. Und früher oder später vergesse ich sie dann.
Durch Aktivierung dieses Systems des Gefühlsmanagements habe ich im Laufe meines bisherigen Lebens die meisten unnötigen Beunruhigungen vermieden und meine Welt relativ stabil zu halten vermocht. Daß es mir gelungen ist, ein so effektives System über so lange Zeit funktionsfähig zu halten, erfüllt mich mit einem gewissen Stolz.
Wenn ich allerdings auf Noboru Wataya stieß, weigerte sich mein System zu funktionieren. Es gelang mir einfach nicht, Noboru Wataya in eine Sphäre abzuschieben, die in keiner Beziehung zu mir stand. Und schon diese Tatsache als solche ärgerte mich tierisch. Kumikos Vater war ohne Frage ein arroganter, durch und durch unangenehmer Mensch, aber schließlich war er ein Kleingeist, der sich zeit seines Lebens an ein paar primitive Pseudo-Überzeugungen geklammert hatte. So jemanden konnte ich ohne weiteres ausblenden. Nicht jedoch Noboru Wataya. Er wußte, was für ein Mensch er war. Und er hatte auch eine recht klare Vorstellung davon, was in mir vorging. Wäre ihm danach zumute gewesen, er hätte mich restlos zermalmen können. Wenn er das nicht getan hatte, dann nur, weil ich ihm vollkommen gleichgültig war. Ich war die Zeit und die Energie nicht wert, die es gekostet hätte, mich zu zermalmen. Und das brachte mich an ihm in Rage. Er war ein widerlicher Mensch, ein hohler Egoist. Aber was seine intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten anbelangte, war er mir haushoch überlegen. Unsere erste Begegnung hinterließ in meinem Mund einen schlechten Geschmack, der nicht wieder verschwinden wollte. Mir war, als habe mir jemand eine Handvoll Wanzen in den Rachen gestopft. Sie auszuspucken nützte nichts: ich spürte sie weiterhin im Mund. Tagelang konnte ich an nichts anderes als an Noboru Wataya denken. Ich versuchte, mich mit Konzerten und Kino abzulenken. Ich ging sogar mit den Jungs aus der Kanzlei zu einem Baseballspiel. Ich trank, und ich las die Bücher, die ich erst hatte lesen wollen, wenn ich die Zeit dafür haben würde. Aber immer saß Noboru Wataya mit verschränkten Armen da und sah mich mit diesen bösartigen Augen an, die mich in sich einzusaugen drohten wie ein bodenloser Sumpf. Das zehrte an meinen Nerven und ließ den Boden, auf dem ich stand, erbeben.
Als wir uns das nächste Mal sahen, fragte mich Kumiko nach meinem Eindruck von ihrem Bruder. Ich brachte es nicht fertig, ihr meine ehrliche Meinung zu sagen. Ich wollte sie eigentlich nach seiner Maske fragen und nach dem verborgenen »Etwas«, das sich dahinter verbarg. Ich wollte ihr alles wiedergeben, was mir im Zusammenhang mit ihrem Bruder durch den Kopf gegangen war. Doch ich sagte nichts. Ich hatte das Gefühl, daß ich es nie schaffen würde, ihr diese Dinge begreiflich zu machen, und daß ich, wenn ich nicht imstande war, mich verständlich auszudrücken, mich überhaupt nicht äußern sollte - jedenfalls nicht jetzt.
»Er ist … anders, soviel ist sicher«, sagte ich. Ich wollte dem etwas hinzufügen, aber ich fand nicht die richtigen Worte. Sie bohrte auch nicht nach. Sie nickte lediglich stumm.
An meinen Gefühlen für Noboru Wataya änderte sich auch später nichts mehr. Er fuhr unvermindert fort, an meinen Nerven zu zehren. Es war wie ein leichtes chronisches Fieber. Ich hatte keinen Fernseher in der Wohnung, aber ein gespenstischer Zufall sorgte dafür, daß jedesmal, wenn ich irgendwo einen Blick auf ein eingeschaltetes Gerät warf, er da saß und irgendein Statement von sich
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