Mister Aufziehvogel
Gefühlen der anderen teilzuhaben. Und was für wunderschöne Briefe das waren! Wenn Sie sie lesen könnten, würden Sie erkennen, welch ein wunderbarer Mensch sie ist. Durch ihre Briefe habe ich so viele verschiedene Welten, so viele interessante Menschen kennengelernt! Ihre Briefe haben mir soviel Kraft geschenkt, soviel Mut gemacht! Sie haben mir geholfen heranzuwachsen. Dafür werde ich meiner Schwester immer zutiefst dankbar sein. Ich bestreite in keiner Weise, was sie für mich getan hat, aber schließlich sind Briefe nur Briefe. Als ich die schwierigsten Jahre der Jugend durchlebte, als ich meine Schwester mehr als je zuvor gebraucht hätte, war sie immer irgendwo in weiter Ferne. Es war mir nicht möglich, die Hand auszustrecken und sie neben mir zu spüren. In unserer Familie war ich völlig allein. Isoliert. Meine Teenagerjahre waren angefüllt mit Schmerz - später werde ich Ihnen mehr von diesem Schmerz erzählen. Es gab niemanden, an den ich mich hätte wenden können, niemanden, den ich um Rat hätte fragen können. In dieser Hinsicht war ich genauso einsam, wie Malta es gewesen war. Wenn ich sie bei mir gehabt hätte, wäre mein Leben anders verlaufen. Sie hätte Worte des Rats und des Zuspruchs und des Heils für mich gehabt. Aber was hat es schon für einen Sinn, davon jetzt zu reden? So wie Malta ihren Weg allein finden mußte, so mußte ich den meinigen allein finden. Und als ich zwanzig wurde, beschloß ich, mich umzubringen.« Kreta Kano nahm ihre Tasse und trank ihren Kaffee aus. »Was für ein köstlicher Kaffee«, sagte sie.
»Danke«, sagte ich, so beiläufig wie möglich. »Kann ich Ihnen etwas zu essen anbieten? Ich habe vorhin ein paar Eier abgekocht.«
Nach einigem Zögern sagte sie, sie würde eines essen. Ich holte Eier und Salz aus der Küche und goß ihr Kaffee nach. In aller Ruhe machten Kreta Kano und ich uns daran, unsere Eier zu schälen, und dann aßen wir und tranken Kaffee, ohne uns zu beeilen. Während wir damit beschäftigt waren, klingelte das Telefon, aber ich nahm nicht ab. Nach fünfzehn oder sechzehn Klingelzeichen verstummte es. Kreta Kano schien das Klingeln überhaupt nicht wahrzunehmen. Als sie ihr Ei aufgegessen hatte, holte sie ein kleines Taschentuch aus ihrer weißen Lackledertasche und tupfte sich den Mund ab. Dann zupfte sie ihren Rocksaum gerade.
»Da ich mich entschlossen hatte, meinem Leben ein Ende zu machen, fand ich, ich sollte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Eine Stunde lang saß ich an meinem Schreibtisch und versuchte, die Gründe für meine Entscheidung zu erläutern. Ich wollte klarstellen, daß niemand an meinem Tod schuldig war, daß die Gründe ausschließlich in mir selbst lagen. Ich wollte nicht, daß meine Familie sich für etwas verantwortlich fühlte, wofür sie nichts konnte.
Aber ich schaffte es nicht, den Brief fertigzuschreiben. Ich versuchte es immer wieder, aber jede neue Fassung erschien mir schlechter als die vorige. Wenn ich las, was ich geschrieben hatte, klang es albern, ja sogar komisch. Je ernster ich mich auszudrücken bemühte, desto lächerlicher war das Ergebnis. Am Ende beschloß ich, überhaupt nichts zu schreiben.
Ich fand, die Sache sei ganz einfach. Ich war von meinem Leben enttäuscht. Ich konnte die vielfältigen Schmerzen, die mein Leben mir verursachte, nicht länger ertragen. Zwanzig Jahre lang hatte ich diese Schmerzen erduldet. Mein Leben war nichts als eine nie versiegende Quelle des Schmerzes gewesen. Aber ich hatte mich bemüht, ihn so gut ich nur konnte zu ertragen. An der Aufrichtigkeit meiner Bemühungen, den Schmerz zu ertragen, hege ich nicht den mindesten Zweifel. Ich kann mit wohlbegründetem Stolz behaupten, daß meine Anstrengungen ihresgleichen suchten. Ich gab mich gewiß nicht kampflos geschlagen. Doch am Tag, als ich zwanzig wurde, gelangte ich zu einem einfachen Schluß: Das Leben war es nicht wert. Das Leben war es nicht wert, solch einen Kampf fortzusetzen.« Sie verstummte und verbrachte eine Weile damit, die Ecken des weißen Taschentuchs auf ihrem Schoß adrett aufeinanderzulegen. Wenn sie nach unten sah, warfen ihre langen falschen Wimpern sanfte Schatten auf ihre Wangen. Ich räusperte mich. Ich hatte das Gefühl, ich sollte etwas sagen, aber ich wußte nicht was, und so schwieg ich. In der Ferne hörte ich den Aufziehvogel schreien. »Der Schmerz war die Ursache meines Entschlusses zu sterben«, sagte Kreta Kano. »Und wenn ich ›Schmerz‹ sage, dann meine ich es genauso, wie ich
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