Mister Aufziehvogel
kann nicht ganz folgen«, sagte ich. »Wir bitten Sie lediglich, daß Sie uns helfen, den Kater wiederzufinden. Um mehr nicht. Wenn der Kater tot ist, würden wir das gern wissen. Warum muß es ›eine längere Geschichte‹ werden? Das verstehe ich nicht.«
»Ich ebensowenig«, sagte sie. Sie führte die Hand an die blanke Haarspange und schob sie ein Stückchen zurück. »Aber ich bitte Sie, meiner Schwester zu vertrauen. Ich will nicht behaupten, daß sie alles weiß. Aber wenn sie sagt, daß es eine längere Geschichte werden wird, können Sie sicher sein, daß es eine längere Geschichte werden wird.«
Ich nickte wortlos. Es gab nichts, was ich noch hätte sagen können. Kreta Kano blickte mir geradewegs in die Augen und fragte in einem neuen, förmlichen Ton: »Sind Sie beschäftigt, Herr Okada? Haben Sie für den Rest des Nachmittags noch Pläne?«
Nein, sagte ich, ich hätte keine Pläne.
»Hätten Sie dann etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein wenig von mir erzählte?« fragte Kreta Kano. Sie legte die weiße Lackledertasche neben sich auf das Sofa und legte dann die Hände, eine auf die andere, in Höhe der Knie auf ihren engen grünen Rock. Ihre Nägel waren in einem schönen Rosa lackiert. Sie trug keine Ringe.
»Bitte«, sagte ich. »Erzählen Sie mir alles, was Sie möchten.« Und so wurde der Fluß meines Lebens - wie sich bereits in dem Augenblick abgezeichnet hatte, als Kreta Kano an meiner Tür klingelte - in noch seltsamere Richtungen gelenkt.
8
K RETA KANOS LANGE GESCHICHTE
EINE UNTERSUCHUNG
ÜBER DIE NATUR DES SCHMERZES
»Ich wurde am neunundzwanzigsten Mai geboren«, begann Kreta Kano ihre Geschichte, »und am Abend meines zwanzigsten Geburtstags beschloß ich, mir das Leben zu nehmen.«
Ich setzte ihr eine neue Tasse Kaffee vor. Sie goß Sahne hinein und rührte mit einer matten Bewegung um. Kein Zucker. Ich trank meinen Kaffee wie immer schwarz. Auf dem Regal fuhr die Uhr trocken fort, die Mauern der Zeit abzuklopfen.
Kreta Kano sah mich scharf an und sagte: »Ich frage mich, ob ich ganz am Anfang beginnen sollte - wo ich geboren wurde, Kindheit, Familie und so weiter.«
»Ganz wie Sie möchten. Ich überlasse es Ihnen. Was immer Ihnen am angenehmsten ist«, sagte ich.
»Ich war das jüngste von drei Kindern«, sagte sie. »Malta und ich haben einen älteren Bruder. Mein Vater leitete eine eigene Klinik in der Kanagawa-Präfektur. Etwas, was man als häusliche Probleme bezeichnen könnte, haben wir nie gekannt. Ich wuchs in einer ganz normalen Familie auf, wie man sie überall finden kann. Meine Eltern waren sehr ernste Menschen, die fest an den Wert harter Arbeit glaubten. Sie waren recht streng mit uns, aber nachträglich würde ich sagen, daß sie uns in kleinen Dingen durchaus ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit gelassen haben. Wir waren wohlhabend, aber meine Eltern hielten nichts davon, ihren Kindern Geld für irgendwelchen Unsinn zu geben. Man kann wohl sagen, daß ich recht spartanisch aufgezogen wurde.
Malta war fünf Jahre älter als ich. Sie hatte von Anfang an etwas Besonderes an sich. Sie konnte alles mögliche erraten. Sie wußte zum Beispiel, daß der Patient in Zimmer soundsoviel gerade gestorben war, oder wo genau jemand seine verlorene Brieftasche wiederfinden würde. Anfangs hatten alle ihre Freude daran, und oft fanden sie es nützlich, aber bald begann es, meine Eltern zu beunruhigen. Sie verboten ihr, vor anderen Leuten je wieder über Dinge zu reden, ›die keine erkennbar reale Grundlage hatten‹. Mein Vater mußte an seine Stellung als Direktor des Krankenhauses denken. Es durfte sich nicht herumsprechen, daß seine Tochter übernatürliche Kräfte besaß. Von dem Augenblick an waren Maltas Lippen versiegelt. Sie hörte nicht nur auf, über Dinge zu reden, ›die keine erkennbar reale Grundlage hatten‹, selbst an den gewöhnlichsten Gesprächen beteiligte sie sich nur noch selten.
Mir gegenüber allerdings öffnete sie ihr Herz. Wir standen uns schon immer sehr nah. Sie sagte: ›Du darfst nie verraten, daß ich dir das gesagt habe‹, und dann sagte sie zum Beispiel: ›Hier an der Straße wird’s einen Brand geben‹, oder ›Tante Sowieso aus Setagaya wird bald kränker werden‹. Und sie irrte sich nie. Ich war noch ein kleines Mädchen, und so fand ich das alles sehr lustig. Es kam mir nie in den Sinn, mich davor zu fürchten oder es unheimlich zu finden. Solange ich zurückdenken kann, habe ich meine große Schwester immer auf Schritt
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