Mister Aufziehvogel
und Tritt begleitet und darauf gewartet, daß ihre nächste ›Botschaft‹ kam. Im Laufe der Jahre wurden diese besonderen Fähigkeiten stärker, aber sie wußte nicht, wie sie sie gezielt einsetzen oder fördern könnte, und das bereitete ihr große Seelenqualen. Sie hatte niemanden, den sie hätte um Rat fragen können, niemanden, der sie hätte anleiten können. Dies machte sie zu einem sehr einsamen jungen Mädchen. Sie mußte mit all ihren Problemen allein fertig werden. Sie mußte alle Antworten allein finden. Bei uns zu Hause war sie unglücklich. Nie fand sie in ihrem Herzen Frieden. Sie mußte ihre Fähigkeiten unterdrücken und verbergen. Es war so, als zöge man eine große, starke Pflanze in einem kleinen Blumentopf. Es war unnatürlich. Es war falsch. Sie wußte nur, daß sie so schnell wie möglich da heraus mußte. Sie glaubte fest daran, daß es irgendwo eine Welt, eine Lebensweise geben mußte, die richtig für sie war. Bis zum Ende der Oberschule mußte sie sich jedoch zusammennehmen.
Sie war entschlossen, nach der Schule nicht aufs College, sondern ins Ausland zu gehen. Meine Eltern hatten selbst natürlich ein ganz normales Leben geführt und waren nicht bereit, sie ziehen zu lassen. Also arbeitete meine Schwester hart, um sich das nötige Geld zu verdienen, und dann lief sie von zu Hause fort. Ihre erste Station war Hawaii. Sie lebte zwei Jahre lang auf Kauai. Irgendwo hatte sie gelesen, an der Nordküste der Insel gebe es eine Gegend mit wunderbaren Quellen. Schon damals hatte Wasser für meine Schwester eine sehr große und tiefe Bedeutung. Sie war davon überzeugt, die menschliche Existenz werde weitgehend vom Wasser bestimmt. Deswegen ließ sie sich auf Kauai nieder. Damals gab es im Landesinneren noch eine Hippiekommune, und Malta wurde zu einem Mitglied dieser Gemeinschaft. Das dortige Wasser übte einen sehr starken wohltätigen Einfluß auf ihre spirituellen Kräfte aus. Indem sie ihrem Körper dieses Wasser zuführte, gelang es ihr, zwischen ihren Kräften und ihrem physischen Leib eine ›größere Harmonie‹ herzustellen. Sie schrieb mir, wie wundervoll das sei, und ihre Briefe machten mich sehr glücklich. Doch schon bald konnte die Gegend sie nicht mehr befriedigen. Sicher, es war ein schönes, friedliches Land, und die Menschen strebten dort nach nichts anderem als nach Seelenfrieden und Freiheit von materiellen Bedürfnissen, aber sie waren zu sehr von Sex und Drogen abhängig. Meine Schwester brauchte diese Dinge nicht. Nach zwei Jahren verließ sie Kauai. Von dort ging sie nach Kanada, und nachdem sie eine Zeitlang durch den Norden der Vereinigten Staaten gereist war, zog sie weiter nach Europa. Wo immer sie hinkam, nahm sie Wasserproben, und es gelang ihr, an mehreren Orten herrliches Wasser zu finden, aber keins davon war vollkommen. Also reiste sie immer weiter. Immer wenn ihr das Geld ausging, verdiente sie sich etwas als eine Art Wahrsagerin. Sie half den Menschen, verlorene Dinge oder vermißte Personen wiederzufinden, und sie entlohnten sie dafür. Ihr wäre es lieber gewesen, das Geld nicht anzunehmen. Vom Himmel gewährte Gaben sollten nicht gegen weltliche Güter eingetauscht werden. Damals war das allerdings für sie die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wo immer sie hinkam, erfuhren die Menschen von ihren Weissagungen. So fiel es ihr nicht schwer, etwas zu verdienen. In England half sie einmal sogar der Polizei bei ihren Nachforschungen. Ein kleines Mädchen wurde vermißt, und meine Schwester fand heraus, wo der Leichnam versteckt war. Sie fand auch, nicht weit davon entfernt, den Handschuh des Mörders. Der Mann wurde verhaftet und gestand die Tat. Die Zeitungen haben ausführlich darüber berichtet. Irgendwann werde ich Ihnen die Ausschnitte zeigen. Jedenfalls reiste sie so weiter durch Europa, bis sie schließlich nach Malta gelangte. Fast fünf Jahre waren vergangen, seit sie Japan verlassen hatte, und diese Insel entpuppte sich als das Ziel ihrer Suche nach Wasser. Davon müßte sie Ihnen doch eigentlich selbst erzählt haben?«
Ich nickte.
»Während ihrer Wanderungen durch die Welt schickte mir Malta regelmäßig Briefe. Natürlich kam es gelegentlich vor, daß sie mir nicht schreiben konnte, aber fast jede Woche erhielt ich einen langen Brief, in dem sie mir mitteilte, wo sie gerade war und was sie tat. Wir blieben uns weiterhin sehr nah. Selbst über so große Entfernungen hinweg gelang es uns durch diese Briefe, an den
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