Mister Aufziehvogel
kann. Ich begann zu glauben, ein Fluch laste auf mir- so ungerecht war das Leben. Ich hätte mich mit meinen Schmerzen vielleicht abfinden können, wenn die anderen Menschen ähnlich gelitten hätten, aber sie taten’s nicht, und so war mein Los unerträglich. Der Schmerz war auf der Welt ungerecht verteilt. Ich versuchte, etwas über die Schmerzen der anderen zu erfahren, aber niemand wußte, was wirklicher Schmerz ist. Die Mehrzahl der Menschen leidet keine größeren Schmerzen - zumindest die meiste Zeit über nicht. Als ich das endlich begriff (ich war damals gerade auf die Oberschule gekommen), wurde ich so traurig, daß ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Warum gerade ich? Warum mußte ausgerechnet ich eine so entsetzliche Bürde tragen? Ich wollte keinen Augenblick länger leben. Gleichzeitig aber kam mir ein anderer Gedanke. Dieser Zustand konnte nicht ewig so weitergehen. Eines Morgens würde ich aufwachen, und der Schmerz würde - unvermittelt, auf unerklärliche Weise - verschwunden sein, es würde ein neues, friedliches, schmerzfreies Leben für mich beginnen. Viel Zuversicht gab mir dieser Gedanke allerdings nicht.
Und so vertraute ich mich meiner Schwester an. Ich sagte ihr, daß ich nicht bereit sei, solche Schmerzen noch weiter zu ertragen: Was sollte ich tun? Nachdem sie eine Zeitlang darüber nachgedacht hatte, sagte sie folgendes: ›Ich bin sicher, daß mit dir etwas nicht stimmt, aber ich weiß nicht, was es ist. Und ich weiß auch nicht, was du dagegen unternehmen könntest. Ich bin noch nicht weit genug, in solchen Dingen ein Urteil zu fällen. Ich weiß nur, daß du wenigstens bis zu deinem zwanzigsten Geburtstag warten solltest. Halt aus, bis du zwanzig wirst, und dann triff deine Entscheidung. Das dürfte das beste sein.‹
Und so beschloß ich weiterzuleben, bis ich zwanzig wäre. Aber wieviel Zeit auch verging, die Situation wurde einfach nicht besser. Im Gegenteil, der Schmerz wurde sogar noch intensiver. Das lehrte mich nur eines: ›Mit dem Wachstum des Körpers nimmt das Volumen des Schmerzes proportional zu.‹ Trotzdem ertrug ich den Schmerz noch acht Jahre lang und versuchte dabei, nur die positive Seite des Lebens zu sehen. Ich ließ niemanden ein Wort der Klage hören und bemühte mich, selbst dann noch zu lächeln, wenn der Schmerz am schlimmsten war. Ich zwang mich, nach außen hin stets heiter zu erscheinen, selbst wenn der Schmerz so intensiv war, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Tränen und Klagen konnten den Schmerz schließlich nicht lindern; sie konnten nur bewirken, daß ich mich noch elender fühlte. Der Erfolg meiner Bemühungen war, daß die Menschen mich gern hatten. Sie betrachteten mich als ein ruhiges, gutartiges Mädchen. Ich genoß das Vertrauen der Erwachsenen und die Freundschaft von Gleichaltrigen. Ich hätte ein ideales Leben, eine vollkommene Jugendzeit haben können, wäre der Schmerz nicht gewesen. Aber er war immer da, wie mein Schatten. Wenn ich ihn auch nur für einen Augenblick vergaß, schlug er an einer neuen Stelle meines Körpers zu.
Auf dem College lernte ich einen Jungen kennen, und im Sommer meines ersten Jahres verlor ich meine Jungfräulichkeit. Selbst das bereitete mir - wie vorauszusehen - nichts als Schmerzen. Eine erfahrene Freundin versicherte mir, es werde aufhören, weh zu tun, sobald ich mich daran gewöhnt hätte, aber es hörte nie auf. Jedesmal, wenn ich mit ihm schlief, trieb mir der Schmerz die Tränen in die Augen. Eines Tages sagte ich meinem Freund, daß ich keinen Sex mehr haben wolle. Ich sagte zu ihm: ›Ich liebe dich, aber ich will nie wieder diese Schmerzen ertragen müssen.‹ Er sagte, er habe noch nie einen solchen Unsinn gehört. ›Du hast ein emotionales Problem‹, sagte er. ›Entspann dich, dann tut es nicht mehr weh. Dann fühlt es sich sogar gut an. Alle anderen tun es, also kannst du es auch. Du gibst dir einfach nicht genug Mühe. Du läßt dir alles durchgehen. Du benutzt diesen angeblichen Schmerz, um dein eigentliches Problem zu verstecken. Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, das tut dir nicht gut.‹
Als ich das hörte - nach all dem, was ich jahrelang ertragen hatte - explodierte ich. ›Was weißt du schon von Schmerz?‹ schrie ich ihn an. ›Der Schmerz, den ich spüre, ist kein gewöhnlicher Schmerz. Ich weiß, was Schmerzen sind. Ich habe sie alle gehabt. Wenn ich sage, daß etwas weh tut, dann tut es wirklich weh! ‹ Ich versuchte, ihm zu erklären, wovon ich
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