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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sprach, indem ich ihm jeden einzelnen Schmerz beschrieb, den ich je verspürt hatte, aber er begriff überhaupt nichts. Es ist unmöglich, sich einen Begriff von echtem Schmerz zu machen, solange man ihn nicht selbst erlebt hat. Also war dies das Ende unserer Beziehung. Kurze Zeit später kam mein zwanzigster Geburtstag. Zwanzig lange Jahre lang hatte ich den Schmerz ertragen in der Hoffnung, daß einmal die glückliche Wende kommen würde, aber alles war umsonst gewesen. Ich hatte das Gefühl, vollkommen gescheitert zu sein. Ich wollte, ich wäre schon früher gestorben. Der lange Aufschub hatte meine Qualen nur verlängert.«
    An diesem Punkt holte Kreta Kano einmal tief Luft. Vor ihr auf dem Tisch standen die Schüssel mit den Eierschalen und ihre leere Kaffeetasse. Auf ihrem Schoß lag das Taschentuch, das sie so sorgfältig zusammengefaltet hatte. Als erinnere sie sich plötzlich an die Zeit, warf sie einen Blick auf die Uhr, die auf dem Regal stand. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie mit trockener, leiser Stimme. »Ich wollte nicht so lange reden. Ich habe schon zuviel von Ihrer Zeit beansprucht. Ich möchte Ihnen nicht länger zur Last fallen. Ich weiß nicht, wie ich mich dafür entschuldigen kann, Sie so gelangweilt zu haben.«
    Sie griff nach dem Trageriemen ihrer weißen Lackledertasche und stand vom Sofa auf.
    Darauf war ich nicht gefaßt gewesen. »Einen Augenblick, bitte«, sagte ich verwirrt. Ich wollte nicht, daß sie mitten in ihrer Geschichte aufhörte. »Wenn Sie befürchten, mir meine Zeit zu stehlen, kann ich Sie wirklich beruhigen. Ich habe den ganzen Nachmittag nichts vor. Da Sie mir schon so viel anvertraut haben, warum wollen Sie nicht bis zum Ende erzählen? Sicher war das noch nicht alles.«
    »Natürlich nicht«, sagte sie. Sie sah zu mir herab, beide Hände um den Riemen ihrer Handtasche geklammert. »Was ich Ihnen bislang erzählt habe, war eher nur die Einleitung.« Ich bat sie, einen Augenblick zu warten, und ging in die Küche. Ich stellte mich vor die Spüle und atmete zweimal tief durch. Dann holte ich zwei Gläser aus dem Schrank, legte ein paar Eiswürfel hinein und füllte sie mit Orangensaft aus dem Kühlschrank auf. Die beiden Gläser stellte ich auf ein kleines Tablett und trug sie ins Wohnzimmer. Mit all dem ließ ich mir bewußt Zeit, aber als ich ins Zimmer kam, stand sie noch immer auf demselben Fleck. Als ich allerdings die Gläser mit dem Saft auf den Tisch stellte, schien sie es sich anders zu überlegen. Sie ließ sich wieder auf dem Sofa nieder und legte die Tasche neben sich. »Wollen Sie wirklich, daß ich Ihnen meine Geschichte bis zum Ende erzähle?« fragte sie. »Sind Sie sicher?«
    »Absolut sicher«, sagte ich.
    Sie trank ihren Saft zur Hälfte aus und fuhr dann mit ihrer Erzählung fort. »Natürlich schaffte ich es nicht, mich zu töten. Wäre es mir gelungen, säße ich jetzt nicht hier und tränke mit Ihnen Orangensaft, Herr Okada.« Sie sah mir in die Augen, und ich lächelte beipflichtend zurück. »Wäre ich wie geplant gestorben, hätte dies die endgültige Lösung meiner Probleme bedeutet. Mit dem Tod hätte das Bewußtsein aufgehört, und ich hätte nie wieder Schmerzen leiden müssen. Was genau das war, was ich wollte. Leider wählte ich die falsche Methode, mich umzubringen.
    Um neun Uhr am Abend des neunundzwanzigsten Mai ging ich zu meinem Bruder ins Zimmer und bat ihn, mir sein Auto zu leihen. Es war ein blitzblanker neuer Toyota MR2, und der Gedanke, mich damit fahren zu lassen, machte ihn sichtlich nicht glücklich. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Er konnte es mir nicht abschlagen, denn ich hatte ihm Geld geliehen, damit er es sich kaufen konnte. Ich nahm die Wagenschlüssel und fuhr eine halbe Stunde durch die Gegend. Das Auto hatte erst knapp fünfzehnhundert Kilometer auf dem Tacho. Man brauchte das Gaspedal nur leicht anzutippen, und es schoß wie eine Rakete los. Es war das ideale Auto für meine Zwecke. Ich fuhr zum Stadtrand, bis hinaus zum Fluß, und dort fand ich eine massive Steinmauer von der Art, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es war die Gartenmauer eines großen Komplexes von Eigentumswohnungen, und sie stand am Ende einer Sackgasse. Ich sorgte dafür, daß ich eine ausreichend lange Beschleunigungsstrecke haben würde, und dann trat ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ich muß eine Geschwindigkeit von gut hundertfünfzig Stundenkilometern gehabt haben, als ich gegen die Mauer krachte und das Bewußtsein

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