Mister Aufziehvogel
Die Hauptsache ist - also, sehen Sie es so: Ich werde sehr nett zu Ihnen sein. Und Sie brauchen gar nichts zu tun. Ist das nicht wunderbar? Sie brauchen gar nichts zu tun, haben keinerlei Verpflichtungen, und ich tue alles. Alles. Finden Sie das nicht herrlich? Also hören Sie auf, sich so viele Gedanken zu machen. Hören Sie auf, alles zu komplizieren. Machen Sie sich leer. Stellen Sie sich vor, Sie lägen an einem warmen Frühlingsnachmittag in schönem, weichem Schlamm.« Ich schwieg.
»Du schläfst. Du träumst. Du liegst in schönem, warmem Schlamm. Vergiß deine Frau. Vergiß, daß du arbeitslos bist. Vergiß die Zukunft. Vergiß alles. Wir alle kommen aus dem warmen Schlamm, und dahin kehren wir alle zurück. Am Ende - ach übrigens, Herr Okada, wann haben Sie zum letztenmal mit Ihrer Frau geschlafen? Können Sie sich daran erinnern? Schon ziemlich lange her, nicht? Ja, dürfte inzwischen zwei Wochen hersein.«
»Tut mir leid, mein Besuch ist jetzt da«, sagte ich.
» Mehr als zwei Wochen, nicht? Ich merk’s an Ihrer Stimme. Drei Wochen vielleicht?«
Ich sagte nichts.
»Aber lassen wir das«, sagte sie mit einer Stimme wie ein Handfeger, der die Lamellen einer Jalousie vom angesammelten Staub befreit. »Das betrifft nur Sie und Ihre Frau. Aber ich werde Ihnen alles geben, was Sie nur wollen. Und Sie, Herr Okada, gehen dadurch keinerlei Verpflichtungen ein. Biegen Sie einfach um die nächste Ecke, und voilà: eine Welt, die Sie noch nie gesehen haben. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie einen blinden Fleck haben, oder? Sie verstehen immer noch nicht.«
Meine Hand krampfte sich um den Hörer, aber ich sagte weiterhin nichts.
»Schauen Sie sich um«, sagte sie. »Sehen Sie sich genau um, und sagen Sie mir, was da ist. Was sehen Sie?«
In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Erleichtert legte ich wortlos auf.
Leutnant Mamiya war ein kahlköpfiger alter Herr von ungewöhnlicher Körpergröße, der eine goldgerahmte Brille trug. Er hatte das gesunde braungebrannte Aussehen eines Mannes, der im Leben viel im Freien gearbeitet hat - ohne ein Gramm überschüssiges Fleisch auf den Knochen. Je drei tiefe Falten strahlten vollkommen symmetrisch von beiden Augenwinkeln aus, als sei er im Begriff, die Augen zusammenzukneifen, weil ihm das Licht zu grell war. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber siebzig war er bestimmt. In seiner Jugend mußte er ein schneidiger Bursche gewesen sein, das sah man an seiner straffen Haltung und seinen sparsamen Bewegungen. Seine Sprache und sein Verhalten waren von extremer Höflichkeit, wirkten jedoch nicht übertrieben förmlich, sondern eher schnörkellos präzise. Der Leutnant wirkte wie ein Mann, der gewohnt ist, selbst Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Er trug einen unauffälligen lichtgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine grau-schwarzgestreifte Krawatte. Der Stoff des nüchternen Anzugs schien für einen heißen, feuchten Junivormittag ein wenig zu dick zu sein, aber am Leutnant war nicht ein Tropfen Schweiß zu sehen. Links hatte er eine Handprothese, die in einem dünnen Handschuh aus demselben lichtgrauen Material wie der Anzug steckte. Mit diesem grauen Stoff bezogen, wirkte die Hand, wenn man sie mit der gebräunten, behaarten Rechten verglich (die momentan ein oben zusammengeknotetes Stoffbündel hielt), besonders kalt und anorganisch.
Ich führte ihn ins Wohnzimmer, bat ihn, auf der Couch Platz zu nehmen, und stellte eine Tasse grünen Tee vor ihn auf den Tisch.
Er entschuldigte sich dafür, daß er keine Visitenkarte habe. »Früher habe ich in einem ländlichen Teil der Präfektur Hiroshima an der Oberschule Gemeinschaftskunde unterrichtet, aber seit meiner Pensionierung habe ich nichts mehr getan. Ich baue ein wenig Gemüse an, es ist nicht viel mehr als ein Hobby, nur einfache landwirtschaftliche Arbeit. Aus diesem Grunde trage ich keine Visitenkarte bei mir, wenngleich mir die grobe Unschicklichkeit meines Verhaltens bewußt ist.«
Ich hatte auch keine Visitenkarte.
»Entschuldigen Sie meine Indiskretion, Herr Okada, aber dürfte ich Sie vielleicht nach Ihrem Alter fragen?«
»Ich bin dreißig«, sagte ich.
Er nickte. Dann trank er ein Schlückchen Tee. Ich konnte mir nicht denken, was es ihm nutzen mochte zu wissen, daß ich dreißig Jahre alt war. »Sie wohnen in einem sehr schönen, ruhigen Heim«, sagte er, wie um das Thema zu wechseln.
Ich erzählte ihm, daß es meinem Onkel gehöre und daß er es
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