Mister Aufziehvogel
Unbescheidenheit meiner Bitte vollkommen bewußt, hoffe aber, daß Sie die Güte haben werden, dies als den Wunsch eines Sterbenden zu betrachten und diese letzte Mühe um meinetwillen auf sich zu nehmen.‹ Ich muß gestehen, daß ich zutiefst erschüttert war, von Herr Honda einen solchen Brief zu erhalten. Ich hatte seit Jahren keinerlei Kontakt mehr mit ihm gehabt - vielleicht sechs oder sieben Jahre ohne ein Wort. Ich schrieb ihm sofort zurück, aber am selben Tag, als ich meine Antwort zur Post brachte, erreichte mich von seinem Sohn die Mitteilung, Herr Honda sei verstorben.« Er nahm einen Schluck von seinem grünen Tee.
»Herr Honda wußte genau, wann er sterben würde«, fuhr Leutnant Mamiya fort. »Er muß einen Bewußtseinszustand erlangt haben, den ein Mensch wie ich nie zu erreichen hoffen kann. Wie Sie auf Ihrer Postkarte schrieben, hatte er etwas an sich, was die Menschen zutiefst bewegte. Ich habe das von Anfang an gespürt, als ich ihn im Sommer 1938 kennenlernte.«
»Ach, waren Sie zur Zeit des Zwischenfalls von Nomonhan in derselben Einheit wie Herr Honda?«
»Nein«, sagte Leutnant Mamiya und biß sich auf die Lippe. »Wir gehörten zu verschiedenen Einheiten - sogar verschiedenen Divisionen. Wir arbeiteten zusammen bei einer kleineren militärischen Operation, die vor der Schlacht von Nomonhan stattfand. Korporal Honda wurde später bei Nomonhan verwundet und nach Japan zurückgeschickt. Ich kam nicht nach Nomonhan. Diese Hand« - hier hob Leutnant Mamiya seine behandschuhte Linke - »verlor ich während des sowjetischen Vormarsches vom August 1945, dem Monat, als der Krieg endete. Während einer Schlacht gegen eine Panzereinheit bekam ich von einem schweren Maschinengewehr eine Kugel in die Schulter. Ich lag bewußtlos auf dem Boden, als mir ein sowjetischer Panzer über die Hand fuhr. Ich wurde gefangengenommen, in einem Lazarett in Tschita behandelt und in ein sibirisches Gefangenenlager geschickt. Dort behielten sie mich bis 1949. Ich war insgesamt zwölf Jahre auf dem Kontinent: 1937 wurde ich dorthin abkommandiert, und während der ganzen Zeit betrat ich kein einzigesmal japanischen Boden. Meine Angehörigen glaubten, ich sei im Kampf gegen die Sowjets gefallen. Sie setzten mir auf dem Dorffriedhof einen Grabstein. Ich hatte, bevor ich Japan verließ, mit einem Mädchen aus dem Dorf eine Art Übereinkunft getroffen, aber als ich endlich zurückkehrte, war sie bereits mit einem anderen Mann verheiratet. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit.« Ich nickte.
»Bitte entschuldigen Sie, Herr Okada«, sagte er. »Diese Reden über alte Zeiten müssen für einen jungen Burschen wie Sie langweilig sein. Eines möchte ich allerdings doch noch hinzufügen. Und zwar, daß wir ganz gewöhnliche junge Männer waren, genau wie Sie. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, Soldat zu werden. Mein Wunsch war, Lehrer zu werden. Kaum aber hatte ich das College verlassen, erhielt ich einen Gestellungsbefehl, wurde in die Offiziersschule gesteckt und anschließend auf den Kontinent abkommandiert, wo ich insgesamt zwölf Jahre blieb. Mein Leben ging vorüber wie ein Traum.« Leutnant Mamiya preßte die Lippen fest aufeinander.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte ich nach einiger Zeit, »würde ich sehr gern erfahren, wie Sie und Herr Honda einander kennenlernten.« Ich war aufrichtig neugierig zu wissen, was für ein Mann Herr Honda vor der Zeit unserer Bekanntschaft gewesen war.
Die Hände exakt auf die Knie gelegt, saß Leutnant Mamiya da und dachte über etwas nach. Nicht, daß er sich unschlüssig gewesen wäre. Er dachte einfach nach. »Es könnte eine lange Geschichte werden«, sagte er.
»Das macht mir nichts aus«, sagte ich.
»Ich habe sie noch niemandem erzählt. Und ich bin völlig sicher, daß Herr Honda sie gleichfalls niemandem erzählt hat. Ich sage das deswegen, weil wir … einen Pakt schlossen … darüber Stillschweigen zu bewahren. Aber Herr Honda ist jetzt tot. Ich bin der einzige Überlebende. Es wird niemandem schaden, wenn ich sie erzähle.«
Und so begann Leutnant Mamiya, mir seine Geschichte zu erzählen.
12
L EUTNANT MAMIYAS LANGE GESCHICHTE: 1. TEIL
In die Mandschurei, begann Leutnant Mamiya, wurde ich Anfang des Jahres 1937 geschickt. Ich war damals ein frischgebackener Leutnant, und ich wurde dem Generalstab der Kwantung-Armee zugeteilt, in Hsin-ching. Auf dem College war mein Hauptfach Geographie gewesen, und so landete ich beim Vermessungskorps, der auf kartographische
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