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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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unvorhergesehenes Ereignis zum Ausbruch des Krieges führen (und genau das geschah im darauffolgenden Jahr bei Nomonhan), würden wir zum Kämpfen Karten benötigen. Und nicht lediglich gewöhnliche Landkarten, sondern echte Gefechtskarten. Um einen Krieg führen zu können, braucht man Karten, aus denen man ablesen kann, wo Truppen kampieren können, wo sich die eigene Artillerie am effektivsten postieren läßt, wie viele Tage die eigene Infanterie benötigt, um dahin zu marschieren, wo ausreichend Wasser zu finden ist, wieviel Futter man für seine Pferde mitnehmen muß: eine große Menge detaillierter Informationen. Ohne solche Karten läßt sich einfach kein moderner Krieg führen. Was auch der Grund war, weswegen sich unsere Arbeit mit der Tätigkeit des Nachrichtendienstes überschnitt und wir in ständigem Kontakt mit der entsprechenden Sektion der Kwantung-Armee oder dem militärischen Geheimdienst in Hailar standen. Jeder kannte jeden, aber diesen Yamamoto hatte ich noch nie gesehen. Nach fünftägigen Vorbereitungen verließen wir Hsin-ching und fuhren mit der Eisenbahn nach Hailar. Von dort fuhren wir per Lastwagen weiter, durchquerten das Gebiet des lamaistischen Khandur-Byo-Tempels und erreichten den Grenzbeobachtungsposten der Armee von Mandschukuo, der dem Fluß Chalcha am nächsten lag. Ich kann mich an die genaue Entfernung nicht mehr erinnern, aber es müssen um die dreihundert Kilometer gewesen sein. Die Region war eine Einöde, in der, soweit das Auge reichte, buchstäblich nichts zu sehen war. Eine meiner Aufgaben bestand darin, immer wieder anhand der tatsächlichen Geländeformen meine Karte zu überprüfen, aber da draußen gab es nichts, woran ich irgend etwas hätte überprüfen können, nichts, was man als ein Geländemerkmal hätte bezeichnen können. Alles, was ich sah, waren zottige, grasbewachsene Buckel, die sich ins Unendliche fortsetzten, der ununterbrochene Kreis des Horizonts und Wolken, die über den Himmel trieben. Ich hatte keinerlei Möglichkeit zu ermitteln, wo auf der Karte wir uns jeweils befanden. Ich konnte lediglich anhand unserer bisherigen Fahrzeit ungefähre Schätzungen anstellen. Wenn man sich lautlos durch solch eine vollkommen trostlose Landschaft bewegt, kann man bisweilen der übermächtigen Halluzination erliegen, daß man sich als Individuum allmählich auflöst. Der umgebende Raum ist so unermeßlich groß, daß es zunehmend schwerer wird, ein Bewußtsein von sich selbst aufrechtzuerhalten. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Das Bewußtsein weitet sich immer mehr aus, bis es die ganze Landschaft ausfüllt, und wird dabei so diffus, daß man zuletzt außerstande ist, es an die eigene Körperlichkeit gebunden zu halten. Genau diese Erfahrung habe ich inmitten der mongolischen Steppe gemacht. Wie grenzenlos sie war! Man fühlte sich darin eher wie auf einem Ozean als wie in einer wüsten Landschaft. Die Sonne stieg am östlichen Horizont auf, zog ihre Bahn über den leeren Himmel und verschwand hinter dem westlichen Horizont. Das war die einzige wahrnehmbare Veränderung in unserer Umgebung. Und in der Bewegung der Sonne spürte ich etwas, was ich kaum zu benennen weiß: eine unermeßliche, kosmische Liebe.
    Am Grenzposten der mandschurischen Armee stiegen wir vom Lastwagen auf Pferde um. Es stand schon alles für uns bereit: vier Reitpferde plus zwei Packpferde mit Lebensmitteln, Wasser und Waffen. Wir waren leicht bewaffnet. Ich und der Mann namens Yamamoto hatten jeder nur eine Pistole. Hamano und Honda trugen zusätzlich zur Pistole das reguläre Infanteriegewehr Modell 38 und je zwei Handgranaten.
    Der faktische Führer unserer Gruppe war Yamamoto. Er traf alle Entscheidungen und erteilte uns die nötigen Anweisungen. Da er offiziell Zivilist war, schrieb das militärische Reglement vor, daß ich als Befehlshaber fungierte, aber niemand zweifelte an, daß in Wirklichkeit er das Kommando führte. Zum einen war er einfach der Typ dafür, und auch wenn ich den Leutnantsrang hatte, war ich nichts anderes als ein Schreibstubenhengst ohne jede Kampferfahrung. Soldaten erkennen sofort, wer wirkliche Autorität besitzt, und das ist derjenige, dem sie gehorchen. Abgesehen davon hatten mir meine Vorgesetzten befohlen, Yamamotos Anweisungen widerspruchslos Folge zu leisten. Mein Gehorsam sollte über die geltenden Regeln und über alle Dienstvorschriften hinausgehen. Wir erreichten den Chalcha und folgten ihm dann in südlicher Richtung. Der Fluß

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