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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Land, wie jeder wußte, eine antisowjetische Opposition, und mit Hilfe geheimer Kontakte zur japanischen Armee in Mandschukuo hatten Mitglieder dieser Gruppe schon eine Reihe von Aufständen angezettelt. Der harte Kern dieser aufrührerischen Elemente rekrutierte sich aus Angehörigen der mongolischen Armee, die sich die arrogante Art der sowjetischen Militärs nicht länger gefallen lassen wollten, aus Grundbesitzern, die die zwangsweise Zentralisierung der landwirtschaftlichen Produktion ablehnten, und aus lamaistischen Priestern, von denen es über hunderttausend gab. Die einzige ausländische Macht, an die sich die antisowjetischen Kräfte um Hilfe wenden konnten, war die in Mandschukuo stationierte japanische Armee. Und offenbar fühlten sich die Mongolen uns Japanern, als Mitasiaten, näher als den Russen. Im vorausgegangenen Jahr, 1937, waren in der Hauptstadt Ulan Bator Pläne zu einer großangelegten Revolte aufgedeckt worden, und die Regierung hatte eine blutige Säuberungsaktion angeordnet. Tausende von Armeeangehörigen und lamaistischen Priestern waren als »konterrevolutionäre Elemente« und »Marionetten der japanischen Armee« hingerichtet worden, aber trotzdem schwelten antisowjetische Ressentiments hier und da weiter fort. Insofern wäre die Tatsache, daß ein japanischer Nachrichtenoffizier den Chalcha überquerte und heimlich Kontakt mit einem sowjetfeindlichen Offizier der mongolischen Armee aufnahm, nicht weiter verwunderlich gewesen. Gerade um solche Aktivitäten zu verhindern, ließ die Armee der Äußeren Mongolei ständig Wachtrupps patrouillieren und hatte einen zehn bis zwanzig Kilometer breiten Landstreifen diesseits der Grenze nach Mandschukuo zur Sperrzone erklärt, aber es war ein riesiges Gebiet, das unmöglich lückenlos überwacht werden konnte.
    Selbst wenn der Aufstand gelingen sollte, war klar, daß die Sowjetarmee sofort eingreifen und versuchen würde, die konterrevolutionären Aktivitäten zu zerschlagen; wenn das aber geschah, würden die Rebellen die japanische Armee zu Hilfe rufen, was wiederum der Kwantung-Armee eine willkommene Ausrede für eine Intervention liefern würde. Die Besetzung der Äußeren Mongolei würde der sowjetischen Erschließung Sibiriens einen schweren Schlag versetzen. Mag sein, daß das Kaiserliche Hauptquartier in Tokio sich bemühte, die Bremse anzuziehen, aber eine solche Gelegenheit würde sich der ehrgeizige Generalstab der Kwantung-Armee mit Sicherheit nicht entgehen lassen. Das Ergebnis würde kein bloßer Grenzkonflikt sein, sondern ein ausgewachsener Krieg zwischen der Sowjetunion und Japan. Und wenn an der mandschurisch-sowjetischen Grenze ein solcher Krieg ausbrach, stand zu befürchten, daß Hitler mit der Besetzung Polens und der Tschechoslowakei reagieren würde. Das also war die Situation, auf die Feldwebel Hamano mit seiner Bemerkung angespielt hatte, es könnte zu einem Krieg kommen.
    Am nächsten Morgen ging die Sonne auf, und Yamamoto war noch immer nicht zurück. Ich sollte die letzte Wache übernehmen. Ich borgte mir Feldwebel Hamanos Gewehr, setzte mich auf eine etwas höhere Düne und betrachtete den östlichen Himmel. Die mongolische Morgendämmerung war ein unglaubliches Schauspiel. In einem einzigen Augenblick wurde der Horizont zu einem bleichen Strich in der Finsternis, und dann stieg diese Helligkeit empor, immer höher und höher hinauf. Es war so, als habe sich ein Riese aus dem Himmel heruntergebeugt und ziehe den Vorhang der Nacht allmählich vom Antlitz der Erde. Es war ein majestätischer Anblick, weit gewaltiger, wie ich schon sagte, als ich mit meinen unzulänglichen menschlichen Sinnen zu fassen vermochte. Wie ich so dasaß und schaute, überkam mich die Empfindung, daß mein Leben selbst langsam in nichts zerging. Nirgends war eine Spur von eitlem Menschenwerk zu sehen. Dasselbe hatte sich schon aberhundertmillionenmal, aberhundert milliarden mal ereignet, lange bevor es auf Erden auch nur den ersten Keim von Leben gegeben hatte. Ohne mehr zu wissen, daß ich da Wache stehen sollte, gewahrte ich wie in Trance das Heraufdämmern des Tages.
    Als die Sonne vollends über den Horizont gestiegen war, zündete ich mir eine Zigarette an, trank einen Schluck aus meiner Feldflasche und urinierte. Dann dachte ich an Japan. Ich stellte mir meinen Heimatort im Mai vor - den Duft der Blumen, das Plappern des Flusses, die Wolken am Himmel. Freunde von früher. Die Familie. Die weiche Süße eines warmen Reiskuchens im

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