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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Eichenblatt. An sich bin ich kein großer Freund von Süßigkeiten, aber ich kann mich gut erinnern, wie sehr ich mich an diesem Morgen nach einem Reiskuchen sehnte. In dem Moment hätte ich für einen einzigen mochi einen halben Jahressold gegeben. Und wie ich an Japan dachte, begann ich mich zu fühlen, als habe man mich am Rand der Welt ausgesetzt. Warum mußten wir unter Einsatz unseres Lebens für dieses unfruchtbare Stück Erde kämpfen, das keinerlei militärischen oder wirtschaftlichen Wert besaß, dieses riesige Land, in dem nichts anderes gedieh als spärliche Grasbüschel und stechende Insekten? Für meine Heimat wäre auch ich bereit gewesen, zu kämpfen und zu sterben. Aber ich sah nicht ein, daß ich mein einziges, teures Leben für dieses wüste Stück Boden opfern sollte, aus dem nie ein Halm Getreide sprießen würde.
     
    Yamamoto kehrte im Morgengrauen des folgenden Tages zurück. Auch an diesem Morgen hatte ich die letzte Wache übernommen. Den Fluß im Rücken, starrte ich gerade nach Westen, als ich das Wiehern eines Pferdes hinter mir zu hören meinte. Ich fuhr herum, konnte aber nichts sehen. Das Gewehr im Anschlag, starrte ich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ich schluckte, und schon das Geräusch aus meiner eigenen Kehle genügte, um mich zu erschrecken. Mein Finger zitterte am Abzug. Ich hatte noch nie in meinem Leben auf jemanden geschossen.
    Doch schon wenige Sekunden später kämpfte sich über den Kamm einer Düne ein Pferd mit Yamamoto auf dem Rücken. Den Finger noch immer am Abzug, ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen, aber niemand sonst tauchte auf - weder der Mongole, der ihn abgeholt hatte, noch feindliche Soldaten. Ein großer weißer Mondkeil hing am östlichen Himmel wie ein verwunschener Megalith. Yamamoto schien am linken Arm verletzt zu sein. Das Taschentuch, das er darum gebunden hatte, war mit Blut befleckt. Ich weckte Korporal Honda, damit er sich des Pferdes annahm. Das Tier war über und über mit Schaum bedeckt und keuchte; es hatte offensichtlich eine lange Strecke in scharfer Gangart zurückgelegt. Hamano übernahm meine Wache, und ich holte die Erste-Hilfe-Ausrüstung, um Yamamotos Wunde zu versorgen.
    »Ein glatter Durchschuß, und die Blutung hat schon aufgehört«, sagte Yamamoto. Er hatte recht: Die Kugel hatte den Knochen verfehlt und sich nur durch den Muskel gebohrt. Ich entfernte das Taschentuch, desinfizierte Ein- und Austrittswunde mit Alkohol und legte einen neuen Verband an. Er ließ die ganze Prozedur über sich ergehen, ohne ein einzigesmal zusammenzuzucken, obwohl seine Oberlippe mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt war. Er trank gierig aus einer Feldflasche, zündete sich eine Zigarette an und atmete den Rauch mit sichtlichem Genuß ein. Dann zog er seine Browning aus dem Halfter, klemmte sie sich unter den Arm, ließ das Magazin herausschnappen und lud mit einer Hand geschickt drei Patronen nach. »Wir brechen sofort auf, Leutnant Mamiya«, sagte er. »Überqueren den Chalcha und kehren zum Beobachtungsposten der mandschurischen Armee zurück.«
    Wir packten in aller Eile zusammen, bestiegen die Pferde und machten uns auf den Weg zur Furt. Ich fragte Yamamoto nicht, unter welchen Umständen oder von wem er angeschossen worden sei. Ich war nicht in der Lage, ihn danach zu fragen, und wahrscheinlich hätte er mir ohnehin keine Antwort gegeben. Momentan war mein einziger Gedanke, dieses feindliche Territorium so schnell wie möglich zu verlassen, den Chalcha zu durchqueren und die relative Sicherheit des jenseitigen Ufers zu erreichen.
    Schweigend ritten wir in scharfem Trab über die grasige Ebene. Niemand sprach ein Wort, aber alle dachten dasselbe: Würden wir es über den Fluß schaffen? Wenn eine mongolische Patrouille vor uns die Brücke erreichte, würde es das Ende für uns bedeuten. Ein Gefecht konnten wir unmöglich gewinnen. Ich erinnere mich, wie mir die Achselhöhlen vor Schweiß troffen. Ich wurde überhaupt nicht wieder trocken.
    »Sagen Sie, Leutnant Mamiya, sind Sie jemals angeschossen worden?« fragte mich Yamamoto nach langem Schweigen. »Nie«, antwortete ich.
    »Haben Sie schon einmal jemanden erschossen?«
    »Nie«, sagte ich wieder.
    Ich hatte keine Ahnung, was für einen Eindruck meine Antworten auf ihn machten, ebensowenig wußte ich, worauf er mit seinen Fragen hinauswollte. »Hier drin befindet sich ein Dokument, das im Hauptquartier abgeliefert werden muß«, sagte er und legte die Hand

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