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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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auf seine Satteltasche. »Wenn es nicht zugestellt werden kann, muß es vernichtet werden - verbrannt, vergraben, was auch immer, aber es darf unter keinen Umständen in feindliche Hände gelangen. Unter keinen Umständen. Das hat für uns allerhöchste Priorität. Ich möchte sicher sein, daß Sie das verstanden haben. Es ist sehr, sehr wichtig.«
    »Ich verstehe«, sagte ich.
    Yamamoto sah mir in die Augen. »Wenn die Situation brenzlig wird, ist das erste, was Sie tun müssen, mich erschießen. Ohne zu zögern. Wenn ich es selbst tun kann, werde ich es tun. Aber mit dem Arm könnte es schwierig werden. In dem Fall müssen Sie mich erschießen. Und sehen Sie zu, daß Sie richtig treffen.« Ich nickte schweigend.
     
    Als wir kurz vor der Dämmerung die Furt erreichten, erwiesen sich die Ängste, die ich den ganzen Ritt über ausgestanden hatte, als nur zu begründet. Ein kleines Kommando mongolischer Soldaten hatte dort Posten bezogen. Yamamoto und ich kletterten auf eine etwas höhere Düne und beobachteten sie abwechselnd mit dem Fernglas. Es waren acht Mann - nicht allzu viele also, aber für eine Grenzpatrouille waren sie schwer bewaffnet. Ein Mann trug eine Maschinenpistole, und auf einer Bodenerhebung war ein schweres MG aufgebaut. Es war von Sandsäcken umgeben und zielte auf den Fluß. Es war offensichtlich, daß sie hier in Stellung gegangen waren, um uns daran zu hindern, das andere Ufer zu erreichen. Sie hatten ihre Zelte am Fluß aufgeschlagen und ihre zehn Pferde nicht weit davon angepflockt. Sie schienen entschlossen zu sein, dort zu bleiben, bis sie uns erwischt hatten. »Gibt es keine andere Furt, die wir benutzen könnten?« fragte ich. Yamamoto nahm das Fernglas von seinen Augen und sah mich kopfschüttelnd an. »Es gibt eine, aber sie ist zu weit weg. Zwei Tagesritte. Wir haben nicht so viel Zeit. Uns bleibt nichts anderes übrig, als es hier zu versuchen, egal, was es kostet.«
    »Das heißt, wir gehen nachts rüber?«
    »Richtig. Es ist die einzige Möglichkeit. Wir lassen unsere Pferde hier zurück. Wir erledigen den Wachposten, und die anderen werden wahrscheinlich schlafen. Keine Sorge, der Fluß wird fast jedes Geräusch übertönen. Ich kümmer mich um den Posten. Bis dahin können wir nichts unternehmen, also sollten wir am besten etwas schlafen, Kräfte sammeln, solange wir noch können.«
    Wir setzten unsere Überquerungsaktion für drei Uhr früh an. Korporal Honda nahm den Pferden sämtliches Gepäck ab, führte die Tiere in sichere Entfernung und ließ sie dann frei. Wir hoben ein tiefes Loch aus und vergruben den größten Teil unserer Munitions- und Lebensmittelvorräte. Wir würden jeder lediglich eine Feldflasche, eine Tagesration, eine Schußwaffe und ein paar Patronen mitnehmen. Wenn die Mongolen uns erwischten, würden wir gegen ihre um so viel größere Feuerkraft ohnehin nichts ausrichten können, da nützte uns also auch keine zusätzliche Munition. Jetzt galt es, nach Möglichkeit auf Vorrat zu schlafen, denn wenn wir es tatsächlich auf die andere Seite schaffen sollten, würden wir eine ganze Zeitlang nicht mehr zum Ausruhen kommen. Korporal Honda würde die erste Wache übernehmen und dann von Feldwebel Hamano abgelöst werden.
    Kaum hatte sich Yamamoto im Zelt ausgestreckt, schlief er ein. Offensichtlich hatte er während seiner ganzen Abwesenheit kein Auge zugetan. Neben seinem Kissen lag eine Ledermappe, in die er das wichtige Dokument gesteckt hatte. Hamano schlief kurz nach ihm ein. Wir waren alle erschöpft, aber ich war zu angespannt, um Schlaf finden zu können. Lange lag ich wach, sterbensmüde, aber außerstande einzuschlafen, weil mir immer wieder dieselben Bilder durch den Kopf gingen: wie wir den Wachposten töteten und dann, während wir den Fluß überquerten, mit Maschinengewehrfeuer bestrichen wurden. Meine Handflächen troffen von Schweiß, und in meinen Schläfen hämmerte das Blut. Ich fragte mich immer wieder, ob ich im entscheidenden Augenblick imstande sein würde, mich so zu verhalten, wie es sich für einen Offizier geziemte. Ich kroch aus dem Zelt und ging hinüber zu Korporal Honda, um ihm beim Wachdienst Gesellschaft zu leisten.
    »wissen Sie, Honda«, sagte ich, als ich mich neben ihn gesetzt hatte, »es könnte sein, daß wir hier sterben.«
    »Schwer zu sagen«, erwiderte er.
    Eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort. Aber etwas an seiner Antwort ließ mir keine Ruhe - ein besonderer Tonfall, der einen Anflug von Unsicherheit verriet.

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