Mister Aufziehvogel
klopfen und sagen: ›Jaja, ich verstehe, jetzt machen Sie, daß Sie auf die andere Seite des Flusses kommen, und seien Sie in Zukunft vorsichtiger.‹ Ich wünschte wirklich, ich könnte so handeln. Unglücklicherweise kann ich es nicht. Ich weiß nämlich, wer Sie sind. Und ich weiß, was Sie hier tun. Wir haben Freunde in Hailar, genauso wie Sie Freunde in Ulan Bator haben.«
Er zog seine Handschuhe aus der Tasche, faltete sie ordentlich zusammen und steckte sie wieder ein. »Ganz ehrlich, mir liegt persönlich überhaupt nichts daran, Ihnen Schmerzen zu bereiten oder Sie zu töten. Wenn Sie mir einfach den Brief aushändigten, wäre zwischen uns, soweit es mich betrifft, alles erledigt. Ich würde Ihre sofortige Freilassung anordnen. Sie könnten den Fluß überqueren und wieder nach Haus gehen. Sie haben mein Wort darauf. Alles übrige würden wir als eine rein interne Angelegenheit behandeln. Es hätte nicht das geringste mit Ihnen zu tun.«
Die östlichen Strahlen der Sonne fingen endlich an, meine Haut zu erwärmen. Es war windstill, am Himmel schwebten ein paar harte weiße Wolken. Es folgte ein langes, langes Schweigen. Niemand sprach ein Wort. Der russische Offizier, der mongolische Offizier, die Soldaten und Yamamoto: jeder hütete seine eigene Sphäre des Schweigens. Yamamoto schien sich bereits im ersten Augenblick unserer Gefangennahme mit dem Tod abgefunden zu haben; sein Gesicht war seitdem vollkommen ausdruckslos geblieben.
»Sie beide … werden … so gut wie sicher … hier sterben«, sagte der Russe langsam, Satzteil für Satzteil, als spräche er zu Kindern. »Und es wird ein grauenvoller Tod sein. Die da …« Hier warf der Russe einen Blick auf die mongolischen Soldaten. Der Große, der die Maschinenpistole in den Händen hielt, sah mich mit einem schiefzahnigen Grinsen an. »Es macht ihnen Freude, Menschen auf möglichst komplizierte und phantasievolle Weise zu töten. Es ist, wie soll ich sagen, ihre ganz große Liebhaberei. Seit den Zeiten Dschingis Khans haben die Mongolen ihren Spaß daran, besonders grausame Methoden zu ersinnen, Menschen zu töten. Wir Russen können ein trauriges Lied davon singen. Wir wissen es vom Geschichtsunterricht her. Wir lernen in der Schule, was die Mongolen taten, als sie Rußland eroberten. Sie töteten Millionen von Menschen. Ohne jeden Grund. Sie nahmen in Kiew Hunderte von Adligen gefangen und brachten sie alle zusammen um. Kennen Sie die Geschichte? Sie sägten riesige, dicke Planken, legten die Russen darunter und veranstalteten auf dieser Plattform ein Festbankett, so daß die Russen langsam zu Tode gequetscht wurden. Normale Menschen kämen doch nie auf eine solche Idee, meinen Sie nicht auch? Die Sache erforderte viel Zeit und äußerst umständliche Vorbereitungen. Wer würde sich schon eine solche Mühe machen? Aber sie haben sie sich gemacht. Und warum? Weil es für sie eine Form von Belustigung war. Und es macht ihnen noch immer Spaß, solche Dinge zu tun. Ich habe sie einmal in Aktion gesehen. Ich dachte, ich hätte im Laufe meines Lebens schon einige fürchterliche Dinge gesehen, aber an dem Abend hat es mir, wie Sie sich vorstellen können, den Appetit verschlagen. Verstehen Sie, was ich sage? Rede ich Ihnen zu schnell?« Yamamoto schüttelte den Kopf.
»Ausgezeichnet«, sagte der Russe. Er hielt inne und räusperte sich. »Natürlich wird das hier das zweite Mal für mich sein. Vielleicht wird sich mein Appetit bis zum Abendessen wieder einstellen. Wenn es allerdings möglich wäre, würde ich unnötiges Blutvergießen lieber vermeiden.«
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sah er eine Zeitlang in den Himmel. Dann zog er seine Handschuhe hervor und warf einen Blick auf das Flugzeug. »Wunderbares Wetter«, sagte er. »Frühling. Noch ein bißchen kalt, aber fast genau richtig. Wäre es auch nur ein bißchen wärmer, würde es von Mücken wimmeln. Entsetzlichen Mücken. Ja, der Frühling ist viel besser als der Sommer.« Er holte wieder sein Zigarettenetui hervor, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Streichholz an. Langsam zog er den Rauch in die Lunge, und langsam ließ er ihn wieder heraus. »Ich frage Sie jetzt noch einmal: Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, von dem Brief wirklich nichts zu wissen? Oder ist Ihnen inzwischen vielleicht etwas eingefallen?« Yamamoto sagte nur ein einziges Wort: » Njet. «
»Schön«, sagte der Russe. »Schön.« Dann sagte er etwas auf mongolisch zum
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