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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Früher oder später hätte es zwangsläufig ein böses Ende mit ihm genommen. Was soll’s - es ist nicht mehr zu ändern. Und wenn ER nichts wußte, dann können Sie unmöglich etwas wissen.« Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und riß ein Streichholz an. »Was bedeutet, daß Sie für uns wertlos sind. Nicht wert, gefoltert zu werden. Nicht wert, als Gefangener am Leben gehalten zu werden. Wir möchten diese Angelegenheit mit der größten Diskretion erledigen. Es könnte Komplikationen geben, wenn wir Sie nach Ulan Bator brächten. Das beste wäre natürlich, Ihnen hier und jetzt eine Kugel in den Schädel zu jagen und Sie dann zu begraben oder zu verbrennen und Ihre Asche in den Chalcha zu kippen. Das wäre eine einfache Lösung. Sind Sie nicht auch meiner Meinung?« Er sah mir fest in die Augen. Ich tat weiterhin so, als verstünde ich ihn nicht. »Sie verstehen kein Russisch, nehme ich an. Es ist Zeitvergeudung, Ihnen das alles zu erklären. Was soll’s. Ich könnte schließlich auch Selbstgespräche führen. Also lassen Sie mich zu Ende reden. Jedenfalls habe ich eine gute Nachricht für Sie. Ich habe beschlossen, Sie nicht zu töten. Betrachten Sie es als bescheidenen Ausdruck meines Bedauerns, Ihren Freund, wenn auch gegen meinen Willen, sinnlos getötet zu haben. Wir haben heute morgen unseren Bedarf an Töten hinlänglich gedeckt. Einmal am Tag ist mehr als genug. Und so werde ich Sie nicht töten. Vielmehr werde ich Ihnen eine Überlebenschance geben. Wenn alles gutgeht, könnten Sie hier lebend herauskommen. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß es Ihnen gelingt, nicht allzu groß. Möglicherweise ist sie sogar gleich Null. Aber eine Chance ist immerhin eine Chance. Sie ist auf alle Fälle erheblich besser, als lebendig gehäutet zu werden. Sind Sie nicht auch meiner Meinung?«
    Er hob die Hand und winkte den mongolischen Offizier heran. Der Mann hatte sein Messer äußerst sorgfältig mit Wasser aus einer Feldflasche gereinigt und war gerade damit fertig geworden, es an einem Wetzstein nachzuschärfen. Die Soldaten hatten die Stücke von Yamamotos Haut ausgebreitet und standen jetzt daneben und unterhielten sich. Sie schienen fachmännische Urteile über die Technik des Abhäuters zu tauschen. Der mongolische Offizier steckte sein Messer in die Scheide und dann in die Tasche seines Mantels, bevor er auf uns zukam. Er sah mir einen Augenblick lang ins Gesicht, dann wandte er sich seinem Kollegen zu. Der Russe sagte ein paar kurze Sätze auf mongolisch zu ihm, und der Mann nickte ausdruckslos. Ein Soldat brachte zwei Pferde für die Offiziere. »Wir fliegen jetzt zurück nach Ulan Bator«, sagte der Russe zu mir. »Es ist mir äußerst unangenehm, mit leeren Händen zurückzukehren, aber da kann man nichts machen. Es kann nicht immer klappen. Ich hoffe, mein Appetit stellt sich bis zum Abendessen wieder ein, aber ich habe da meine Zweifel.« Sie saßen auf und ritten davon. Das Flugzeug hob ab, schrumpfte zu einem Silberstäubchen am westlichen Himmel zusammen und verschwand schließlich ganz. Ich blieb allein mit den mongolischen Soldaten und ihren Pferden zurück. Sie setzten mich auf ein Pferd und banden mich am Sattel fest. Dann ritten wir in geschlossener Formation in Richtung Norden los. Mein unmittelbarer Vordermann sang die ganze Zeit mit kaum hörbarer Stimme eine eintönige Melodie. Abgesehen davon war nichts anderes zu hören als das trockene Geräusch der Pferdehufe, die Sand aufwirbelten. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie mich brachten oder was sie mit mir vorhatten. Ich wußte nur, daß ich für sie ein überflüssiges Individuum ohne jeden Wert war. Immer und immer wieder sagte ich mir im Kopf die Worte des russischen Offiziers vor. Er hatte gesagt, daß er mich nicht töten würde. Er würde mich nicht töten, aber meine Chancen zu überleben seien verschwindend gering. Was konnte das bedeuten? Es war zu unbestimmt, als daß ich irgendeine konkrete Vermutung hätte anstellen können. Vielleicht würden sie mich zu irgendeinem grausigen Spiel benutzen. Sie würden mich nicht einfach umbringen, weil sie irgendeinen schaurigen Einfall in die Tat umsetzen und in aller Ruhe auskosten wollten.
    Aber wenigstens hatten sie mich nicht getötet. Wenigstens hatten sie mich nicht, wie Yamamoto, bei lebendigem Leib gehäutet. Am Ende würde man mich vielleicht doch noch umbringen, aber nicht so. Einstweilen war ich am Leben; ich atmete noch. Und wenn der russische Offizier die

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