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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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durchsuchten. Die Ausbeute waren ein paar mandschurische Geldscheine und das Foto einer Frau, wahrscheinlich Hamanos Mutter. Der Zugführer sagte etwas und nahm das Geld an sich. Das Foto wurde achtlos fallen gelassen.
    Einer der mongolischen Soldaten hatte sich offenbar von hinten an Hamano herangeschlichen, während dieser Wache stand, und ihm die Kehle durchgeschnitten. Sie waren uns zuvorgekommen und hatten mit uns das getan, was wir mit ihnen vorgehabt hatten. Hellrotes Blut floß aus dem klaffenden Schnitt, aber für eine so große Wunde war es nicht viel, was da kam; wahrscheinlich war das meiste Blut schon anderswo im Boden versickert. Einer der Soldaten zog ein Messer aus der Scheide, die er am Gürtel trug. Es hatte eine vielleicht fünfzehn Zentimeter lange, gekrümmte Klinge. Er fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum. Ich hatte noch nie ein so seltsam geformtes Messer gesehen. Es schien zu einem ganz bestimmten Zweck gemacht zu sein. Der Soldat vollführte eine Bewegung wie beim Kehle-Durchschneiden und pfiff dabei zwischen den Zähnen. Ein paar der anderen lachten. Das Messer gehörte offenbar nicht zur regulären Ausrüstung, sondern war Privateigentum des Mannes. Alle hatten ein langes Bajonett am Gürtel, aber dieser Mann trug statt dessen ein gekrümmtes Messer, und er hatte damit offensichtlich Hamano die Kehle aufgeschlitzt. Er ließ die Klinge ein paarmal flink durch die Luft wirbeln und steckte sie dann wieder in ihre Scheide. Ohne ein Wort und ohne den Kopf im mindesten zu bewegen, warf Yamamoto einen Blick in meine Richtung. Er dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber ich verstand sofort, was Yamamoto damit zu sagen versuchte: Glauben Sie, daß Korporal Honda es geschafft hat, sich abzusetzen? Trotz meiner Verwirrung und Panik hatte ich mich selbst schon die ganze Zeit gefragt: Wo ist Korporal Honda? Wenn Honda diesem plötzlichen Angriff der mongolischen Soldaten entkommen war, dann hatten wir vielleicht noch eine Chance - eine sehr dürftige Chance vielleicht, und die Frage, was Honda da draußen allein würde ausrichten können, war ziemlich entmutigend, aber eine schwache Hoffnung war immer noch besser als gar keine.
    Sie ließen uns die ganze Nacht lang gefesselt im Sand liegen. Zwei Soldaten wurden zu unserer Bewachung abgestellt: einer mit der Maschinenpistole, der andere mit einem Gewehr bewaffnet. Die übrigen setzten sich in einiger Entfernung von uns auf den Boden, rauchten, redeten und lachten -jetzt offenbar entspannt, wo sie uns gefangen hatten. Weder Yamamoto noch ich sprachen ein Wort. In dieser Gegend sank die Temperatur kurz vor Sonnenaufgang selbst noch im Mai bis unter den Gefrierpunkt. Nackt, wie wir waren, hätten wir ohne weiteres erfrieren können. Aber selbst die schlimmste Kälte war nichts, verglichen mit der panischen Angst, die mich erfüllte. Ich hatte keine Ahnung, was uns bevorstand. Diese Männer waren eine einfache Patrouille: Sie waren wahrscheinlich nicht befugt, in bezug auf uns irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Sie mußten auf Befehle warten. Das bedeutete, daß man uns wahrscheinlich nicht sofort töten würde. Was allerdings danach geschehen würde, konnte ich unmöglich voraussagen. Yamamoto war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Spion, und ich war zusammen mit ihm aufgegriffen worden, also würde man mich natürlich für seinen Komplizen halten. Auf alle Fälle würden wir nicht ungeschoren davonkommen. Einige Zeit nach Sonnenaufgang drang aus dem fernen Himmel ein Geräusch wie von einem Flugzeugmotor. Schließlich kam der silberfarbene Rumpf in mein Gesichtsfeld. Es war eine Aufklärungsmaschine sowjetischer Bauart, mit dem Hoheitszeichen der Äußeren Mongolei. Das Flugzeug kreiste mehrmals über uns. Die Soldaten winkten alle, und das Flugzeug wackelte zur Antwort mit den Tragflächen. Dann landete es auf einer nahegelegenen freien Fläche und ließ Wolken von Sand aufstieben. Der Boden war hart hier, und es gab keinerlei Hindernisse, so daß es vergleichsweise leicht war, auf freiem Feld zu landen und zu starten. Es konnte durchaus sein, daß sie diese Fläche in der Vergangenheit schon häufig als Piste benutzt hatten. Einer der Soldaten saß auf und galoppierte mit zwei gesattelten Pferden am Zügel zum Flugzeug.
    Als er zurückkehrte, ritten neben ihm zwei Männer, die wie hohe Offiziere aussahen. Der eine war Russe, der andere Mongole. Ich vermutete, daß die Patrouille dem Hauptquartier über Funk Meldung von unserer Gefangennahme

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