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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Wahrheit gesagt hatte, würde ich nicht sofort getötet werden. Je mehr Zeit zwischen mir und dem Tod lag, desto größer wurde meine Chance zu überleben. Vielleicht war es nur eine mikroskopisch kleine Chance, aber sie war alles, woran ich mich klammern konnte. Dann, ganz unvermittelt, flammten in meinem Gehirn die Worte Korporal Hondas wieder auf: seine seltsame Prophezeiung, ich würde nicht auf dem Kontinent sterben. Und wie ich dasaß, an den Sattel gefesselt, und die Wüstensonne auf meinen nackten Rücken brannte, ließ ich mir jede einzelne Silbe, die er gesprochen hatte, wieder und wieder im Geist zergehen. Genußvoll verweilte ich bei seinem Gesichtsausdruck, seinem Tonfall, dem Klang jedes einzelnen Wortes. Und ich beschloß, ihm aus tiefstem Herzen zu glauben. Nein, nein, ich würde mich nicht an einem solchen Ort hinlegen und sterben! Ich würde hier lebendig herauskommen! Ich würde den Boden meiner Heimat noch einmal betreten! Nachdem wir zwei Stunden oder länger in Richtung Norden geritten waren, gelangten wir an ein lamaistisches Kultmal. Diese Steinhaufen, obo genannt, sind zugleich der Wohnort von Schutzgottheiten der Reisenden und wertvolle Wegweiser durch die Wüste. Hier saßen die Männer ab und lösten meine Fesseln. Zwei von ihnen nahmen mich in die Mitte, und halb führten, halb schleppten sie mich ein kurzes Stück weiter. Ich rechnete damit, daß man mich hier töten würde. An dieser Stelle befand sich ein Brunnen. Seine Öffnung war mit einer knapp einen Meter hohen Steinbrüstung eingefaßt. Sie ließen mich daneben niederknien, packten mich am Nacken und zwangen mich hineinzusehen. Ich konnte in der undurchdringlichen Finsternis nichts erkennen. Der UO mit den Stiefeln fand einen faustgroßen Stein und ließ ihn in den Brunnen fallen. Kurze Zeit später ertönte das trockene Geräusch von Stein, der auf Sand aufprallt. Der Brunnen war also offenbar ausgetrocknet. Früher einmal hatte er als Wasserstelle gedient, aber er mußte infolge einer Bewegung der unterirdischen Wasserader schon vor langem versiegt sein. Nach der Zeit zu urteilen, die der Stein bis zum Grund gebraucht hatte, war der Schacht ziemlich tief.
    Der UO sah mich mit einem breiten Grinsen an. Dann zog er aus dem Lederhalfter, der an seinem Gürtel hing, eine große automatische Pistole. Er löste die Sicherung und lud mit einem lauten Klack durch. Dann setzte er mir die Mündung der Pistole an den Kopf.
    Er ließ sie lange dort, aber er drückte nicht ab. Dann senkte er langsam die Waffe und deutete mit der linken Hand zum Brunnen. Ich leckte mir die trockenen Lippen und starrte auf die Pistole. Er versuchte mir folgendes zu sagen: Ich konnte zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Ich konnte mich jetzt von ihm erschießen lassen - einfach sterben und die ganze Sache vergessen. Oder ich konnte in den Brunnen springen. Da er so tief war, konnte ich mir, wenn ich unglücklich fiel, das Genick brechen. Andernfalls würde ich auf dem Grund eines dunklen Loches langsam verschmachten. Endlich dämmerte mir, daß dies die Chance war, von der der russische Offizier gesprochen hatte. Der mongolische UO zeigte auf die Uhr, die er Yamamoto abgenommen hatte, und hielt fünf Finger in die Höhe. Er ließ mir fünf Sekunden Zeit, mich zu entscheiden. Als er bei drei angelangt war, stieg ich auf die Brunneneinfassung und sprang. Ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte gehofft, mich an die Wand klammern und langsam hinunterklettern zu können, aber er ließ mir dazu keine Zeit. Meine Hände verfehlten die Wand, und ich stürzte ins Leere.
    Die Zeit, bis ich unten aufschlug, kam mir sehr lang vor. In Wirklichkeit können es nicht mehr als ein paar Sekunden gewesen sein, aber ich weiß noch, daß mir auf dem Weg nach unten sehr viele Dinge durch den Kopf gingen. Ich dachte an meine ferne Heimatstadt. Ich dachte an das Mädchen, mit dem ich unmittelbar vor meiner Einschiffung geschlafen hatte. Ich dachte an meine Eltern. Ich erinnere mich, dankbar dafür gewesen zu sein, daß ich eine jüngere Schwester und keinen Bruder hatte: Auch wenn ich ums Leben kam, würden sie immer noch sie haben und nicht zu befürchten brauchen, daß die Armee sie ihnen wegnehmen würde. Ich dachte an in Eichenblätter gewickelte Reiskuchen. Dann schlug ich auf trockenen Boden auf und verlor für einen Augenblick das Bewußtsein. Es war ein Gefühl, als ob alle Luft in meinem Inneren schlagartig durch die Wände meines Körpers entweichen würde. Ich knallte auf

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