Mister Peanut
er gezwungen, den Blick zu heben und in Haralds gütig lächelnde Augen zu schauen.
»Einmal habe ich mir in Italien aus der Hand lesen lassen«, sagte Harold, »in Palermo. Ist lange her. Jedenfalls hat mir die Frau, eine Zigeunerin, zwei Sachen verraten. Zuerst meinte sie, ich hätte eine alte Seele. Sie konnte es an den vielen Linien erkennen. Sie sagte, ich hätte schon mehrere Leben hinter mir und deswegen das Potenzial zu großer Weisheit. Ich kann das nicht beurteilen, aber dann zeigte sie mir diese Linie.« Mit dem Zeigefinger fuhr er eine Furche, die in der Mitte des Handballens ansetzte, bis zu ihrem Überschneidungspunkt mit einer zweiten, quer verlaufenden Linie ab, an der sie abrupt endete. »Sie sagte, das sei meine Schicksalslinie, und dass sie abbreche, bedeute, dass mein Schicksal nicht vorherbestimmt sei. Alles stünde mir offen. Aus diesem Grund wüsste ich nicht, wer ich bin, hat sie gesagt.«
David betrachtete seine eigenen Hände. Seine Handflächen – nie zuvor war es ihm aufgefallen – wiesen kaum Furchen auf. Seine Schicksalslinie verlief jedoch ähnlich wie die von Harold; auch sie riss ab, war unvollendet.
»Ist schon erstaunlich, was wir zu glauben gewillt sind, wenn wir es nur im rechten Moment zu hören bekommen«, sagte Harold. »Als die Frau mir das mit der Schicksalslinie erzählte, fühlte ich mich wie ein Versager, so als wäre ich unheilbar verblendet, was meinen eigenen Charakter betraf. Seither, seit jenem Tag, habe ich das Gefühl, alle Anstrengungen in meinem Leben nur zu unternehmen, um diese Linie zu vollenden. Ist es nicht seltsam, dass ein völlig fremder Mensch unser Leben dermaßen beeinflussen kann?«
David nickte.
»Sie haben im Moment nicht den Eindruck, Ihre Gefühle im Griff zu haben, oder?«
»Nein«, sagte David.
Der Mann schnippte mit dem Finger in Richtung von Davids Teller, so als wolle er anklopfen. »Darf ich das übernehmen?«
»Nein, vielen Dank«, sagte David.
Harold steckte die Brieftasche wieder ein. »Schön, dass Sie etwas gegessen haben.«
Davids Anspannung ließ ein winziges bisschen nach. Der Tonfall dieses Mannes, der Klang seiner Stimme versprach eine Zukunft, die mit den aktuellen Ereignissen nichts mehr zu tun haben würde.
»Mr. Pepin, ich bin aus verschiedenen Gründen hier. Zunächst einmal, um Ihnen meine Hilfe anzubieten. Ereignet sich in unserem Luftraum eine Tragödie, tun wir unser Allerbestes, um unser Mitgefühl zu bekunden. Aber Mitgefühl, dem keine Taten folgen, ist eine leere Geste. Ich bin in erster Linie hier, um Ihnen die Landung zu ermöglichen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die Angewöhnung«, sagte Harold, »an die Erde. Ich bin gekommen, um sicherzustellen, dass Sie nicht Ihr Leben über den Wolken zurückgelassen haben.«
David schwieg, knüllte seine Serviette zusammen und stützte beide Handgelenke an die Tischkante, um noch einmal seine Hände zu betrachten. Egal, wie sehr man ihm jetzt helfen wollte, er fühlte sich wie bei einem Verhör.
»Ich weiß, wie ominös das klingt«, fuhr Harold fort. »Lassen Sie uns mit dem praktischen Teil beginnen. Ich habe Ihr gesamtes Gepäck dabei. Es liegt draußen in einem Auto mit Chauffeur, das die Fluggesellschaft Ihnen zur Verfügung stellt. Falls Sie oder Ihre Frau Ihr Gepäck benötigen, alles oder auch nur einen bestimmten Gegenstand, lasse ich es sofort holen.«
David nickte.
»Hat der Arzt Ihnen gesagt, wie lange Alice im Krankenhaus bleiben muss?«
»Er hat gesagt, sie müsse blutverdünnende Mittel einnehmen, bevor sie nach Hause fliegen kann. Er sagt, es sei zu gefährlich, sofort wieder zu fliegen.«
»Werden Sie hier im Krankenhaus bleiben?«
David schüttelte den Kopf.
»Warum verraten Sie mir nicht, auf welches Hotel Sie gebucht sind, dann lasse ich das Gepäck vom Fahrer unverzüglich hinbringen. Es kann dort auf Sie warten. Und falls Sie doch länger als geplant hierbleiben, kann er Ihnen jederzeit bringen, was Sie brauchen.«
»Eigentlich wollten wir im Mandarin Oriental wohnen. Aber …«
»Aber nun sind Sie sich nicht mehr sicher.«
»Nein.«
»Haben Sie das Gefühl, immer noch unterwegs zu sein? So wie man nach einer langen Autofahrt nicht einschlafen kann, weil die Seele immer noch den Fahrtwind spürt?«
»Ja.«
»Aus diesem Grund bin ich hier.« Harold hob beide Zeigefinger in die Höhe und legte sie in der Luft aneinander. »Ihr Zustand, David, ist dem des Schocks nicht unähnlich. Ein Mensch erlebt eine Katastrophe, während er in
Weitere Kostenlose Bücher