Mit 50 hat man noch Träume
einem
Moment des Schweigens wechselte sie mit geschlossenen Augen, beinahe schläfrig,
das Thema: »Wie gefällt dir eigentlich deine Arbeit im Reisebüro?« Sie wusste, dass
Mei Ling dreimal wöchentlich frühmorgens nach Köln fuhr, um in einem Reisebüro am
Barbarossaplatz zu arbeiten. Als sie sich noch nicht kannten, hatte sie sie dort
schon einmal gesehen. Mei Ling war gelernte Reisekauffrau. Wie sie inzwischen wusste,
war sie auch diejenige gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass ihre Familie den Vertrag
mit dem chinesischen Reiseveranstalter abgeschlossen hatte, der inzwischen unzählige
chinesische Touristen nach Altenahr brachte.
»Gut«, antwortete
Mei Ling und fügte hinzu: »Ich habe das große Glück, meine Arbeit zu lieben.«
Bea dachte
daran, dass sie ihre Arbeit ebenfalls immer geliebt hatte. Und jetzt hatte sie sich
endlich den Traum erfüllt, den sie schon als junges Mädchen gehabt hatte: Eines
Tages auf dem Land zu leben und ein Restaurant zu führen. Jetzt musste das ›Ahrstübchen‹
nur noch florieren. Bea richtete sich ein wenig auf. Der schwarze Punkt war nähergekommen,
und während sie ihn aufmerksam beobachtete, fragte sie: »Was magst du an deiner
Arbeit besonders?«
Mei Ling
zupfte jetzt auch einen Grashalm. »Die Bilder von fernen Ländern. Wenn ich abends
in meinem Bett liege, stelle ich mir vor, wie es ist, in Algier über den Markt zu
gehen, in London den Tower zu besichtigen oder in Lissabon in einer Kneipe dem Fado
zu lauschen.«
Bea wandte
interessiert den Kopf. »Aber wirst du nicht auch ein bisschen traurig dabei? Ich
meine, es sind Träume …«
»Manchmal
ja, manchmal nein. Weißt du, ich verreise kaum, weil ich sehr an meiner Familie
hänge und auch an unserem Restaurant, und das ist der Grund dafür, warum ich immer
noch zu Hause lebe und dort helfe. Es ist auch der Grund, warum ich nicht in Köln
wohne, sondern in Altenahr und die ganze Fahrerei auf mich nehme. Meine Familie
braucht mich, da kann ich nicht so einfach verreisen.« Mei Ling nahm sich ein Stück
Rhabarberkuchen, sah Bea an und sagte: »Außerdem ziemt es sich nach konfuzianischer
Moralvorstellung für ein unverheiratetes Mädchen nicht, allein zu wohnen.«
»Du meine
Güte, wie alt bist du jetzt?« Bea richtete sich auf.
»29, und
noch immer ohne Mann. Meine Eltern machen sich schon große Sorgen.«
Bea schüttelte
den Kopf.
»Weißt du,
eigentlich ist es so, dass ich zwei Seelen in meiner Brust habe … Eine chinesische
und eine deutsche. Die eine will immer bei der Familie sein und unterwirft sich
ihren Regeln, die andere will hinaus in die Freiheit.«
»Und wie
lauten die Regeln?«
»Achte die
Alten und verneige dich vor ihnen mit Respekt. Achte die Familie und nimm den dir
darin zugedachten Platz ein.«
»Und für
Frauen bedeutet es, dass sie sich unterordnen?«
»Im traditionellen
Sinne ja, bis sie selbst alt geworden sind und sich Achtung verdient haben. In meiner
Generation brechen die konfuzianischen Moralvorstellungen inzwischen aber glücklicherweise
auf. Und trotzdem: Meine Eltern sind erst dann glücklich, wenn ich verheiratet bin
und Kinder zur Welt gebracht habe. Am besten einen Jungen und ein Mädchen, wegen
dem Yin und dem Yang.«
»Verstehe.«
Bea nickte und schenkte sich etwas Mineralwasser ein, von dem Wein war ihr ein bisschen
schwindlig geworden. Nachdenklich strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Aus
dem Punkt auf der Wiese war erkennbar ein Mensch geworden. Inzwischen gab es keinen
Zweifel mehr. Zuerst hatte sie ihn an seinen Bewegungen erkannt, dann an seiner
Statur. Ihr Herz schlug schneller. Es war kein anderer als Johannes Frier, der sich
näherte und fröhlich winkte.
23
Sie musste den Schock erst einmal
verdauen. Ulrike ließ langsam den Telefonhörer sinken und schaute einen Moment ins
Leere, bevor sie ihn zurück auf die Station setzte. Claus hatte gestern Abend in
Frankfurt das Flugzeug nach Barbados bestiegen, um sie zur Rückkehr nach Köln zu
bewegen. Sie sah auf die Uhr: In drei Stunden würde er landen. Bastian hatte gerade
angerufen und die Schadenfreude in seiner Stimme war deutlich herauszuhören gewesen.
Seitdem ihre Söhne wussten, dass ihr Vater die Mutter betrogen hatte, war ihr Verhältnis
zu ihm gespalten. Einerseits fühlten sie Mitleid, andererseits gönnten sie ihrem
Vater die rasante emotionale Talfahrt. Es kam vor, dass Claus sich inzwischen tagelang
nicht rasierte, er, der immer so auf sein Äußeres bedacht gewesen war. Er
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