Mit 50 hat man noch Träume
Blicke, die inzwischen auch Hubertus ihnen
heimlich zuwarf, wäre es allerdings vielleicht besser, darauf zu verzichten.
»Eine außerordentliche
Sitzung«, erklärte sie und in dem Bewusstsein, mehr zu wissen als viele andere hier
im Ort, fügte sie bedeutungsvoll hinzu: »Der reguläre Termin hätte normalerweise
erst Ende nächster Woche stattgefunden, aber die Dringlichkeit der Situation erfordert
selbstverständlich eine frühere Zusammenkunft.«
Die Verkäuferin
nickte zustimmend. »Gut. Je früher sie etwas beschließen, desto besser. Wir lassen
uns von denen doch nicht unser Ortsbild verschandeln, und unsere Sitten. Die essen
ja nicht einmal Kuchen.«
»Nein?«
Christine Schäfer, die mit Schwung das Café betreten und die letzten Sätze der Verkäuferin
mitbekommen hatte, stellte sich neben Marianne Hohenstein an die Kuchentheke und
grüßte unbeschwert. Sich an die Verkäuferin wendend, sagte sie leichthin: »Solange
genug deutsche Touristen bei euch einkehren, ist das doch nicht dramatisch, oder?«
Ihre Stimme trug trotz der Leichtigkeit eine Schärfe in sich, die jeden Versuch
einer Erwiderung im Keim erstickte und dazu führte, dass die Verkäuferin den Kopf
senkte und etwas Unverständliches vor sich hin murmelte.
»Was hältst
du davon, wenn wir das Thema Tempelbau bei unserem nächsten Landfrauentreffen besprechen?«,
wandte sich Christine Schäfer an die Frau des Bürgermeisters.
Marianne
Hohenstein sah sie erstaunt an, benötigte aber einen Moment, um eine Antwort zu
formulieren, und so wandte sich Christine Schäfer zunächst an die Verkäuferin und
bemerkte wie nebenbei: »Übrigens leben die Chinesen erheblich gesünder als wir,
weil sie oft auf Leckereien verzichten. So viel ich weiß, sind in China Süßigkeiten
vor allem Kindern vorbehalten. Wenn Erwachsene Süßes essen, gilt das als unpassend
und undiszipliniert.«
Marianne
Hohenstein und die Verkäuferin sahen sie verblüfft an.
»Du scheinst
dich ja auszukennen«, antwortete Marianne spitz.
»Ja, ich
habe mich mit den Wangs darüber unterhalten«, antwortete Christine. »Deswegen sind
die meisten Chinesen auch schön schlank.« Wie unabsichtlich ließ sie ihren Blick
über Marianne Hohensteins Bauch gleiten, der in einer deutlichen, wenn auch gut
proportionierten Wölbung unter ihrem Rock sichtbar war und sich in einer kleinen
Speckrolle darüber Geltung verschaffte.
Christine
Schäfer hatte das Bedürfnis, die Chinesen vor dem Gerede zu schützen. Die negative
Stimmung, die seit dem Tempelbau im Ort noch stärker ausgeprägt war als schon zuvor,
missfiel ihr und so war sie in den letzten Tagen demonstrativ mit ihren Kindern
bei den Wangs eingekehrt, um Frühlingsrollen und Schweinefleisch süß-sauer zu essen.
Sie billigte den Tempel zwar nicht, da er unrechtmäßig erbaut worden war, aber rein
optisch hatte sie nichts gegen das Bauwerk einzuwenden. Und auch nicht religiös-kulturell.
»Also, was meinst du?«, wandte sie sich erneut an die Frau des Bürgermeisters. »Sollen
wir den Tempel bei unserem nächsten Treffen nicht thematisieren?«
Marianne
Hohenstein schwieg eine Weile, aber schließlich sagte sie: »Warum nicht, es geht
uns ja alle an.« Die Antwort kam zögernd.
»Dann organisiere
ich einen kleinen Vortrag zur Integration von Fremden in bestehenden Gemeinschaften«,
antwortete Christine Schäfer schnell.
Marianne
Hohenstein brummte etwas vor sich hin und griff nach ihrem Portemonnaie. Eine ganze
Weile war nur das Knistern des Papiers zu hören, in das die Verkäuferin den Kuchen
einwickelte. Während die Frau des Bürgermeisters ihr Geld abzählte und auf die Verkaufstheke
legte, sagte sie mit einem Seitenblick zu Christine Schäfer: »Hast du schon gehört?«
»Was denn?«
»Die ›Eintracht‹
ist tot.«
Christine
Schäfer schluckte, Marianne hatte bei ihr mit diesem Thema einen wunden Punkt getroffen.
Sie dachte an das Gespräch, das sie erst gestern mit ihrer Cousine Miriam geführt
hatte, die Zukunft des Vereins schien tatsächlich rabenschwarz zu sein. Es war immer
noch kein neuer Sponsor in Sicht. Die Hoffnung, dass ein großer Ahrtalwinzer das
finanzielle Loch stopfen würde, hatte sich zerschlagen.
Christine
Schäfer hatte keine Lust auf eine Erwiderung. Daher nickte sie nur knapp, bezahlte
ihr Brot und sah zu, dass sie schnell noch vor Marianne Hohenstein das Geschäft
verließ.
25
Die Intensität seines Blicks brachte
ihre Haut zum Glühen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie tatsächlich
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