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Mit 80 000 Fragen um die Welt

Mit 80 000 Fragen um die Welt

Titel: Mit 80 000 Fragen um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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Pancuroniumbromid lassen die Muskeln erschlaffen, das Zwerchfell und die Lungen kollabieren. Kaliumchlorid ist der Killer. 50   Kubikzentimeter stoppen den Herzschlag. Manche nennen das «human». Deswegen hat Injektion die Elektrokution abgelöst, den Tod auf dem elektrischen Stuhl.
    «Dreihunderteinundsechzig Männer sind in diesem Stuhl gestorben», sagt Jim Willet und zeigt auf den elektrischen Stuhl direkt vor unserer Nase.
    «Der ist echt?»
    «Yes, Sir», antwortet Jim. Ich hatte mich schon gewundert, dass das Prison Museum, das Gefängnismuseum vonHuntsville, auf großen Plakaten am Interstate Highway mit einem elektrischen Stuhl wirbt. Aber ich hätte nie gedacht, dass der auch echt ist.
    «Doch, doch, der stand früher drüben in der Walls Unit.»
    Jim reißt seine Augen merkwürdig weit auf und murmelt: «Die Insassen haben ihn immer Old Sparky genannt.»
    Er muss es wissen. Nicht weil Jim das Museum leitet, sondern weil er früher selbst bei Hinrichtungen dabei war. Neunundachtzig Mal hat er als Wärter das Zeichen zur Exekution gegeben, neunundachtzig Menschen hat er sterben sehen, neunundachtzig Särge hat er aus dem Todeshaus getragen. Jetzt ist Jim Rentner, und man könnte behaupten, er hätte seinen alten Beruf zum Hobby gemacht. Aber das ist falsch. Jim Willet hat nie aufgehört, Wärter zu sein.
    Sein Gefängnismuseum sieht aus wie ein Gefängnis, und das ist Absicht. Es hat Gefängnismauern und einen Gefängnisturm mit einem Gefängniswachmann aus Plastik. Drinnen ist eine Gefängniszelle mit Gefängnisgittern, einer Gefängnispritsche und einem Gefängnisklo. Jim hat mir die Gefängnisuniformen gezeigt und die kleinen Kunstwerke, die Gefängnisinsassen aus Papier, Seife und Draht gebastelt haben. Sogar ein kleiner elektrischer Stuhl war dabei. Ich durfte auch Waffen sehen, die Sträflinge selber gebaut oder ins Gefängnis geschmuggelt haben. In Jims Gefängnis feiern ehemalige Gefängnisangestellte Gefängniserinnerungspartys, und ich wette, Jim isst zum Frühstück Grits, den Gefängnisbrei.
    Jim ist selbst ein Gefangener. Sein Arbeitsplatz ist ein Gefängnis, und sein Kopf ist es auch. Er wird die Erinnerungen an neunundachtzig Exekutionen nicht mehr los.
    «Können Sie mir sagen, warum Hinrichtungen in Texas so beliebt sind?»
    «Nein, Sir», antwortet er, und ich zähle die Ringe in seinem Gesicht. «Ich, ich weiß nicht, warum wir hier so viele Menschen hinrichten. Mehr als in allen anderen Staaten.» Jim beginnt zu stammeln.
    «Sir, ich schätze   … Also vielleicht haben wir hier so eine Wildwest-Einstellung: Wenn du nach Texas kommst und ein Verbrechen begehst, dann denken wir darüber nach, dich zu töten. Und wir ziehen das durch.»
    Der Mann sagt diese Worte nicht aus Überzeugung. Er sagt sie auch nicht mit Stolz. Er ist unsicher. Aber nicht, weil er sich möglichst korrekt, objektiv oder unverfänglich ausdrücken möchte. Es ist etwas anderes. Die Toten verfolgen ihn.
    Ich frage Jim, ob es einen Souvenirshop gibt, und folge ihm. In einer Glasvitrine liegen Becherhalter aus Rindsleder mit aufgedrucktem elektrischem Stuhl. «Old Sparky» steht darauf.
    «Da kannst du deine Cola reinstellen.»
    «Meine Cola?»
    «Ja, deine Coke.»
    «Kaufen die Leute das?»
    «Sicher, die gehen gut weg. Hier sind auch noch Old-Sparky-Schlüsselanhänger, Sir!»
    Jim schweigt und schaut wie ein Schuljunge, der in der Mathestunde auf die nächste Frage des Oberstudienrats wartet und weiß, dass er sie nicht beantworten kann. Oder wie ein Kind, das etwas angestellt hat und fürchtet, dass Papa ihm eine knallt.
    Mir fielen noch Hunderte Fragen ein, die ich ihm gerne stellen würde. Wie es ist, einen Menschen sterben zu sehen. Wie es ist, 89   Menschen sterben zu sehen. Neun-und-achtzig. Wie lange es dauert, bis ein Mensch tot ist. Wie oft esschiefgegangen ist. Ob er sich noch an die Gesichter der Toten erinnert und ob er manchmal von ihnen träumt. Wie Freundinnen, Mütter und Väter reagiert haben, die bei der Exekution hinter der Glasscheibe standen. Ob er manchmal Mitleid hatte, ob er immer Mitleid hatte, ob er heute ein schlechtes Gewissen hat. Und ob er nachts gut schlafen kann.
    Ich stelle Jim keine dieser Fragen. Ich gebe ihm die Hand und verabschiede mich. Ich lasse ihn leben.

KAPITEL 8
«WER HAT ANGST VORM SCHWARZEN MANN?»
    LADY WHITE PRIDE UND MISTER KLAN
    Noch acht Stunden bis Little Rock. Wir verlassen Texas, fahren in die Hauptstadt von Arkansas, und ich ahne, dass diesmal alles noch

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