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Mit 80 000 Fragen um die Welt

Mit 80 000 Fragen um die Welt

Titel: Mit 80 000 Fragen um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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nichts gelernt hatten und nichts konnten. Sie hatten nie eine Chance im Leben, und wir haben ihnen auch keine mehr gegeben.»
    «Finden Sie die Todesstrafe immer noch gerecht?»
    Er zögert. Und für einen Moment kann ich durch die getönten Brillengläser und die dunklen Augenhöhlen in Carrolls Seele blicken.
    «Wissen Sie, ich habe hier einen, zwei, drei oder fünfzehn Menschen sterben sehen, bei denen ich mir sicher war: Diese Jungs haben kein Verbrechen begangen. Ich wusste, dass wir hier Unschuldige töten. Das ist unmoralisch, das ist unchristlich, das ist illegal. Es ist einfach falsch.»
    Der Pfarrer schaut ins Leere.
    «Es gibt weltweit nur vier Staaten, die mehr Leute hinrichten als ein einziger Bundesstaat in den USA: China, Nordkorea, Pakistan und Iran. Darauf bin ich nicht stolz.»
    Carroll Pickett steigt in den viel zu großen weißen Pick-up-Truck, mit dem er gekommen ist. Bevor er losfährt, drückt er mir ein Buch in die Hand. Er hat alles aufgeschrieben, seine ganze Geschichte. Sechzehn Jahre im Todestrakt auf ein paar hundert Seiten. Er wollte sich das alles von der Seele schreiben, aber es wird einfach nicht besser. Der Pfarrer hat Schuld auf sich geladen, die er nie wieder loswird. Carroll Pickett ist selbst 95   Mal gestorben.
    Und so stirbt es sich in Texas: Seit den siebziger Jahren hat der Bundesstaat 447   Menschen hingerichtet, weit mehr als jeder andere Staat in den USA. Abgeschlagen auf Platz zwei liegt das Schleimgürtelland Virginia mit 104   Hingerichteten. Die hohe Zahl hat auch damit zu tun, dass texanische Richter so gut wie niemanden begnadigen. In anderenTeilen der Vereinigten Staaten von Amerika kommen laut Statistik zwei Drittel aller zum Tode verurteilten Menschen mit einer lebenslangen Haftstrafe davon. In Texas nicht.
    Wer sich mit Texas anlegt, der ist tot. Darauf sind sie hier stolz, und damit rühmen sich Cowboys, Richter und Gouverneure gleichermaßen. George W.   Bush hat es auch getan. In seinen sechs Amtsjahren als Gouverneur von Texas hat er 152   Menschen hinrichten lassen. So viele wie kein anderer Gouverneur in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
    In diesem Moment sitzen mehr als 400   Männer und Frauen in texanischen Gefängnissen und warten auf die Vollstreckung. Manche seit über dreißig Jahren. Ihr Leben unterscheidet sich nicht von anderen Häftlingen, die einfach nur ihre Zeit absitzen. Bis der Hinrichtungsbefehl kommt.
    Dann verlegen sie den Verurteilten in einen Sicherheitsbereich. Allein. Und von jetzt an läuft der Countdown. Noch drei Wochen, noch zwei Wochen, noch sieben Tage. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Die letzten 24   Stunden verbringen sie in einer Überwachungszelle mit Radio und Fernseher direkt neben der Todeskammer. Bis 12   :   30   Uhr dürfen sie noch einmal Verwandte, Freunde, einen Geistlichen oder einen Anwalt sehen. Dann ist Schluss.
    15   :   30   Uhr: die letzte Mahlzeit. 16   :   00   Uhr: die letzte Dusche. Es ist den Häftlingen gestattet, zur Hinrichtung frische Kleidung anzuziehen. Mit sechs Schnallen fixiert der Wärter den frisch geduschten Verurteilten auf der Todesbahre. Hinter den Scheiben aus Sicherheitsglas stehen bis zu 55   Zeugen, strikt voneinander getrennt: der Gefängnisdirektor, der Generalstaatsanwalt, zwei Ärzte, prominente Bürger aus der Gemeinde, Journalisten, die Familie des Verurteilten, die Familie des Opfers.
    Von der Decke baumelt ein Mikrophon. Jetzt hat der Todeskandidat das Recht, für alle Zeugen hörbar ein letztes Statement abzugeben. Einige bitten ihren Gott um Vergebung oder die Familie des Opfers. Die meisten sagen etwas über Liebe. Manche sagen nichts. Der Verurteilte Nummer 391, ein Mann, der eine 1 7-Jährige vergewaltigt und erschossen hatte, sagte:
    «Uh, I don’t know, um, I don’t know what to say. I don’t know. (Pause) I didn’t know anybody was there.»
    Und dann verabschiedete er sich auf texanische Art. Sein letztes Wort: «Howdy.» Das Texas Department of Criminal Justice veröffentlicht diese letzten Worte seit Jahren im Internet, jeder kann sie dort lesen. Amerika ist das Land der Freiheit.
    In den USA sind fünf verschiedene Hinrichtungsarten zugelassen: Erschießen, Erhängen und Vergasen werden seit den siebziger Jahren nur noch sehr selten angewandt. Am gängigsten ist heute «lethal injection», die Giftspritze. Kochsalzlösung macht den Weg für das Gift frei. Fünf Gramm Natriumthiopental betäuben den Verurteilten, 50   Kubikzentimeter

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