Mit 80 000 Fragen um die Welt
strömen die Abgase direkt von unten in den Innenraum und bleiben auch dort.
Die Rushhour sollte lange vorbei sein, aber es geht trotzdem nicht voran. Alle Hauptstraßen sind verstopft oder kaputt oder beides. Mitten auf der Fahrbahn tun sich metertiefe ungesicherte Abgründe auf. Links und rechts laufen uns Menschen entgegen. Wer sich den Minibus nicht leisten kann, geht jeden Abend zu Fuß von der Arbeit nach Haus. Einen Kilometer, fünf Kilometer, zwanzig Kilometer. Immer wieder klopfen Kinder an mein Fenster. «Birr, Birr, Birr!», rufen sie. Birr ist die äthiopische Währung, ein Birr entspricht fünf Cent.
«Gib ihnen nichts», ruft der Rastafari, «lass die Kinder nicht damit durchkommen. Du erziehst sie zu Bettlern.»Ich blicke in traurige Kinderaugen und möchte jedem der Kleinen am liebsten hundert Euro in die Hand drücken.
Nach zwei Stunden im Smog-Taxi erreichen wir das Hotel Dimitri, ein abgelegenes Haus in der Mitte des Nichts mit Plastikblumen in der Lobby und osteuropäischem Charme. Ich huste schwarze Brocken in den Ausguss und blicke vor dem Einschlafen noch einmal aus dem Fenster. In der Ferne leuchten die Lichter der Stadt, links neben dem Hotel ist ein kleiner Wellblechverschlag. Auch darin glimmt ein Licht. Äthiopien. Mein Körper ist schon hier, aber mein Kopf braucht noch eine Weile.
Am nächsten Morgen ist mein Kopf noch immer nicht da. Ich sollte vielleicht etwas nachhelfen. Äthiopien mag die Wiege der Menschheit sein, ganz sicher aber ist es die Mutter des Kaffees. Was das bedeutet, merkst du, wenn du das tiefdunkle Gebräu, das sie hier in kleinen eckigen Tassen servieren, das erste Mal deine Kehle herunterlaufen lässt. Es ist so dunkel wie Espresso, aber nicht bitter, eher würzig. Fast fruchtig. Ein wenig wie Mokka. Die Äthiopier haben den Kaffee erfunden. Und ihr Kaffee hat nichts mit der Plörre gemein, die wir uns in Deutschland antun. Ich trinke eine Tasse und werde langsam klar, während ich draußen auf einem Plastikstuhl sitze und auf die hohen Mauern starre, die das Hotel umschließen. Die Einfahrt ist vergittert, davor stehen zwei Wachleute. Sie winken mir zu.
Dann öffnet sich das Tor, ein dunkler Geländewagen rauscht heran, und ein kleiner Mann mit rundem Bauch und rundem Kopf stellt sich vor. Er heiße Sisay, das äthiopische Kultusministerium habe ihn geschickt und es täte ihm alles furchtbar leid. Sisay sieht lustig aus. Lachende große Augen über einer Knollennase, darunter hängt ein drolliger Oberlippenbart. Er habe den ganzen Morgen telefoniert,und wir würden bald unsere Kamera zurückbekommen. Ganz sicher. Ganz bald. Doch zunächst sollten wir etwas essen gehen. Wir vertrauen Sisay gerne und steigen zu ihm in den Wagen.
Bei Tageslicht zeigt Addis Abeba ein anderes Gesicht. Ja, es ist versmogt, aber da ist auch ein bisschen Grün. Ja, es ist Äthiopien, aber trotzdem leben die Leute nicht in der Steinzeit. Auch Äthiopier kaufen gerne mal im Supermarkt um die Ecke ein. Und ja, die Stadt ist extrem chaotisch, aber friedlich. Fast herzlich. Wir können uns völlig frei bewegen. So frei man sich in einer Traube aus bettelnden Kindern eben bewegen kann. Hellblonde Reporter mit blauen Augen laufen hier nur selten durch die Straßen. Noch seltener vermutlich mit einem kleinen Mädchenkoffer aus falschem Burberry. Jetzt beginne ich doch, den Kindern Scheine zuzustecken, und sehe, was ich davon habe. Aus fünf Kindern werden zehn, aus zehn werden hundert. «Tu es einfach nicht», sagt Sisay, «auch wenn es hart ist. Wir kaufen gleich etwas Obst, das kannst du ihnen geben.»
Äthiopier sind schöne Menschen. Ein Zuschauer hat mir mal die Frage gestellt: «Wo leben die schönsten Frauen der Welt?» Nun, dieses Land liegt ganz weit vorn. Es ist, als würdest du an jeder Ecke Naomi Campbell begegnen. Sisay zeigt uns die Universität und die Dreieinigkeitskathedrale, in der ich den Sarg des Königs der Könige berühren darf, Haile Selassie. Übrigens ist in der Kathedrale auch ein Fensterbild mit Adam und Eva. Aber wir haben ja noch keine Kamera.
Und während wir mit Sisay das äthiopische Nationalgericht, Injera, genießen – säuerliche Teigfladen, dazu Fleisch und Soßen –, frage ich mich, ob wir in diesem Land überhaupt noch zum Arbeiten kommen. «Wisst ihr», sagt Sisay,«die meisten ausländischen Reporter, die nach Äthiopien reisen, haben dieselben Bilder im Kopf: Slums und unterernährte Kinder mit dicken Bäuchen und Fliegen in den Augen. Das ist
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