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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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zweiundsiebzig«, fügte Anne hinzu. »Meine Mutter ist dreiundsechzig, und sie …«
    »Und sie?«
    »Ach.« Ann zuckte die Achseln. »Weiß nicht, sie sieht einfach nicht so gut aus.« Sie stemmte sich hoch und beugte sich zum Grill vor, um nach einer Schachtel Streichhölzer zu greifen. »Wenn’s dir nichts ausmacht, Mom, rauch ich schnell noch eine.«
    Es machte Olive etwas aus. Schließlich war es Christophers Kind dort drinnen, das gerade dabei war, sein Atmungssystem auszubilden, und was für ein Mensch musste man sein, dass man eine solche Entwicklung gefährdete? Aber laut sagte sie: »Tu dir keinen Zwang an. Mir ist das schnurzpiepegal.«
    Gelobt sei der Herr, schallte es von oben.
    »Du meine Güte«, sagte Olive. »Wie hältst du das aus?«
    »Manchmal gar nicht«, sagte Ann und manövrierte ihren gewaltigen Leib auf den Hocker zurück.
    »Na ja«, sagte Olive, den Blick in ihren Schoß gesenkt, und strich sich den Rock glatt, »es geht ja vorüber.« Sie mochte nicht zuschauen, wie die nächste Zigarette angesteckt wurde.
    Ann gab keine Antwort. Olive hörte sie tief einatmen und wieder ausatmen, roch den Rauch, der zu ihr herübergeweht
kam. Eine Erkenntnis nahm in ihr Gestalt an: Die Frau hatte eine Heidenangst. Woher wollte Olive das wissen, sie, deren Lippen in zweiundsiebzig Jahren nicht eine Zigarette berührt hatten? Aber sie war fest davon überzeugt. In der Küche flammte Licht auf, und durch die vergitterten Fenster sah Olive Christopher zur Spüle gehen.
    Es gab Momente, und das hier war einer, da spürte Olive überdeutlich, wie verzweifelt sich jeder ins Zeug legte, um sich das zu verschaffen, was er brauchte. Und die meisten brauchten irgendein Gefühl der Sicherheit in diesem Meer der Angst, zu dem das Leben mehr und mehr wurde. Die Menschen dachten, Liebe könnte sie retten, und vielleicht war es so. Aber selbst wenn dazu, wie bei der rauchenden Ann, drei verschiedene Kinder von drei verschiedenen Vätern nötig waren, reichte es doch nie aus, nicht wahr? Und Christopher - was für ein Teufel ritt ihn, dass er sich all das auflud und seiner Mutter erst davon erzählte, nachdem es schon längst passiert war? In der Dunkelheit sah sie Ann den Arm vorstrecken und ihre Zigarette löschen, indem sie die Spitze ins Planschbecken stippte. Ein winziges Aufzischen, dann warf sie den Stummel in Richtung Maschendrahtzaun.
    Ein Pferd.
    Christopher hatte nicht die Wahrheit gesagt, als er behauptete, Ann sei »am kotzen«. Olive legte sich die Hand an die Wange, die sich sehr warm anfühlte. Christopher blieb eben Christopher, er würde niemals sagen können: »Du fehlst mir, Mom.« Er musste sagen, seine Frau sei am Kotzen.
    Christopher trat ins Freie, und ihr Herz flog ihm entgegen. »Komm zu uns«, sagte sie. »Komm, setz dich her.«
    Er stand da, die Hände locker an den Hüften, und dann hob er eine Hand und rieb sich langsam über den Hinterkopf. Ann stand auf. »Du kannst meinen Platz haben. Wenn die Kinder schlafen, geh ich jetzt in die Badewanne.«

    Er setzte sich nicht auf den Hocker, sondern rückte einen Liegestuhl neben den von Olive und lümmelte sich auf genau dieselbe Weise darauf wie früher auf die Couch daheim. Sie wollte sagen: »Es tut so gut, dich zu sehen, Kind.« Aber sie sagte nichts und er auch nicht. Eine lange Zeit saßen sie so beieinander. Ihr wäre jeder Flecken Beton recht gewesen, ganz gleich wo auf der Welt, nur um so sitzen zu dürfen, mit ihrem Sohn, dieser leuchtenden Boje in den Wellen ihrer eigenen stummen Angst.
    »Da bist du also unter die Vermieter gegangen«, sagte sie schließlich, weil ihr plötzlich klar wurde, wie drollig das war.
    »Ja.«
    »Sind es Nervensägen?«
    »Nein. Es ist bloß der Typ und sein frommer Papagei.«
    »Wie heißt der Mann?«
    »Sean O’Casey.«
    »Ach ja? Wie alt ist er?«, fragte sie und stemmte sich ein Stück höher in ihrem Liegestuhl, damit sie freier atmen konnte.
    »Wie alt wird er sein?« Christopher seufzte, setzte sich anders hin. So war er ihr vertraut, langsame Bewegungen, langsame Antworten. »Etwa in meinem Alter, würde ich sagen. Bisschen jünger.«
    »Er ist aber nicht mit Jim O’Casey verwandt, oder? Der uns immer in die Schule mitgenommen hat? Die hatten einen ganzen Trupp Kinder. Seine Frau musste wegziehen, nachdem Jim damals in der Nacht von der Straße abgekommen war. Erinnerst du dich? Sie hat die Kinder genommen und ist zurück zu ihrer Mutter gezogen. Ist dein Mieter vielleicht eins von ihnen?«
    »Hab

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