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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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seine Frau bei ihm war und vielleicht auch ein paar von den Kindern.
    Sie konnte es nicht glauben. »Ich glaub’s nicht«, sagte sie immer wieder zu Henry. »Wie ist es passiert?«
    »Das Auto soll ins Schleudern gekommen sein.« Henry schüttelte den Kopf. »Schrecklich«, sagte er.
    Oh, sie tobte innerlich. Sie lief Amok. Sie war so wütend auf Jim O’Casey. Sie war so wütend, dass sie in den Wald lief und so fest auf einen Baum einschlug, dass ihre Hand blutete. Sie stand am Bach und schluchzte, bis sie fast erstickte. Und sie kochte Abendessen für Henry. Unterrichtete den ganzen Tag in der Schule und kam dann heim und kochte Abendessen für Henry. Manchmal kochte er auch für sie, weil sie sagte, sie sei zu müde, und dann machte er eine Dose Spaghetti auf - o Gott, wie es ihr vor dem Zeug ekelte. Sie nahm ab, eine Weile sah sie so gut aus wie nie, eine Ironie, die sie wahnsinnig machte. Henry zog sie oft an sich in diesen Nächten. Sie war sich sicher, dass er keinerlei Verdacht hegte. Er hätte etwas gesagt, denn so war Henry, er fraß nichts in sich hinein. Aber
bei Jim O’Casey hatte sie eine Verschlossenheit gespürt, eine stumme Wut, und sie hatte sich selbst in ihm gesehen, hatte einmal zu ihm gesagt: Wir sind aus dem gleichen schlechten Holz geschnitzt, du und ich. Er hatte nur schweigend seinen Apfel gegessen und sie dabei angesehen.
    »Obwohl, warte mal«, sagte Christopher und setzte sich auf. »Ich glaub, ich hab ihn doch gefragt. Ja, genau. Er hat gesagt, sein Vater wäre vor Jahren nachts in Crosby, Maine, gegen einen Baum gefahren.«
    »Was?« Durch die Dunkelheit spähte Olive zu ihrem Sohn hinüber.
    »Da hat er’s dann mit der Religion gekriegt.«
    »Ist das dein Ernst?«
    »Daher der Papagei.« Christopher streckte den Arm nach oben.
    »Lieber Gott«, sagte Olive.
    Mit übertrieben resignierter - oder angewiderter - Geste ließ Christopher den Arm wieder sinken. »Meine Güte, Mom, das war ein Witz! Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl ist.«
    Im Küchenfenster kam Ann in Sicht, im Bademantel, ein Handtuch um den Kopf gewickelt.
    »Ich fand ihn immer blöd«, sagte Christopher versonnen.
    »Wen, euren Mieter? Nicht so laut!«
    »Nein, wie hieß er gleich, Mr. Jim O’Casey. Gegen einen Baum fahren, das ist doch idiotisch.«
     
    Abgeschnittene Fingernägel und durchweichte Cheerios lagen über den Tisch verstreut, als Olive sich am nächsten Morgen mit ihrer Kaffeetasse hinsetzte. Ann war nebenan und machte Theodore fertig. »Guten Morgen, Mom«, rief sie herüber. »Gut geschlafen?«
    »Ja.« Olive hob die Hand zu einem kurzen Winken. So gut wie heute hatte sie seit Jahren nicht mehr geschlafen -
seit Henrys Schlaganfall nicht. Die Hoffnung, die auf dem Flug Besitz von ihr ergriffen hatte, war beim Einschlafen zurückgekehrt, so dass sie auf Freude gebettet lag wie auf ein weiches Kissen. Ann litt nicht an Übelkeit; Christopher hatte Sehnsucht nach seiner Mutter. Sie war bei ihrem Sohn, er brauchte sie. Der Riss, der vor vielen Jahren aufgetreten war, so harmlos zunächst wie der Ausschlag auf Anns Backe, um dann immer tiefer zu wandern, bis sie und ihr Sohn ganz entzweit waren - er konnte heilen. Er würde seine Narbe hinterlassen, aber Narben sammelte man viele an mit der Zeit und sah doch nach vorn, so wie sie und ihr Sohn von jetzt an nach vorn schauen würden.
    »Du nimmst dir, Mom?«, rief Ann. »Was immer du willst.«
    »Wird gemacht«, rief Olive zurück. Sie stand auf und wischte mit einem Schwamm den Tisch ab, auch wenn anderer Leute Nagelreste anzufassen sie nicht gerade entzückte. Sie wusch sich gründlich die Hände.
    Anderer Leute Kinder entzückten sie auch nicht. Theodore erschien in der Tür, auf dem Rücken einen Rucksack, der so groß war, dass er links und rechts von dem Kind hervorstand. Sie nahm sich einen Doughnut aus einer Schachtel, die sie hoch oben im Regal erspäht hatte, und setzte sich wieder vor ihre Kaffeetasse. »Du darfst jetzt noch keine Doughnuts essen. Erst Müsli, damit du wächst«, erklärte ihr der Junge in einem Ton, der verblüffend salbungsvoll war für ein Kind.
    »Ich würde sagen, ich bin schon genug gewachsen, du nicht?«, erwiderte Olive und nahm einen großen Bissen.
    Hinter Theodore tauchte Ann auf. »’tschuldige, mein kleiner Schatz«, sagte sie, indem sie sich an ihm vorbei zum Kühlschrank schob. Auf ihrer Hüfte saß das Baby, das den Kopf verdrehte, um Olive anzuglotzen. »Theodore, du musst heute zwei Tüten Saft mitnehmen.

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