Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Aufräumen helfen, nur wisse sie nicht, was wohin gehörte. »Nichts gehört irgendwohin«, sagte Chris. »Sieht man das nicht? In diesem Haus hat nichts seinen festen Platz.«
»Du machst es dir einfach bequem, Mom«, sagte Ann. Also ging Olive in den Keller, in den sie ihr vorhin ihren kleinen Koffer hinuntergebracht hatten, und legte sich auf das Doppelbett. Im Grunde, das musste man sagen, war der Keller der angenehmste Raum im Haus. Er war weißgestrichen
und sauber, und neben der Waschmaschine stand sogar ein weißes Telefon.
Am liebsten hätte sie losgeweint. Geheult wie ein Kind. Sie setzte sich auf und wählte.
»Geben Sie ihn mir«, sagte sie und wartete, bis nur mehr Schweigen zu hören war. »Volltreffer, Henry«, sagte sie und wartete noch ein bisschen länger, bis sie einen winzigen Grunzer zu hören glaubte.
»Also, sie ist ein ziemlicher Brummer«, sagte Olive. »Deine neue Schwiegertochter. So anmutig wie ein Fernfahrer. Ein bisschen beschränkt, glaube ich. Ich kann’s nicht richtig beschreiben. Aber nett. Du würdest sie mögen. Ihr beide würdet wunderbar miteinander auskommen.«
Olive sah sich in ihrem Kellerzimmer um und meinte Henry wieder grunzen zu hören. »Nein, die macht sich nicht so bald aus dem Staub. Dafür hat sie hier zu viel am Hals. Und im Bauch auch. Sie haben mich im Keller einquartiert. Eigentlich ganz hübsch, Henry. Weiß gestrichen.« Sie überlegte, was sie noch erzählen konnte, was Henry wohl interessieren würde. »Chris wirkt vergnügt«, sagte sie. Danach ließ sie eine lange Pause. »Redet viel«, fügte sie hinzu. »Also dann, Henry«, sagte sie schließlich und legte auf.
Als sie wieder nach oben kam, war niemand zu sehen. Olive, die dachte, sie würden die Kinder ins Bett bringen, ging durch die Küche und hinaus in den Hof, der jetzt im Dämmer lag.
»Ups, du hast mich ertappt«, sagte Ann, und Olives Herz fing zu hämmern an.
»Guter Gott. Du hast mich ertappt. Ich hab dich da nicht sitzen sehen.«
Ann saß mit gespreizten Beinen auf einem Hocker neben dem Grill; sie hatte eine Zigarette in der einen Hand und hielt mit der anderen das Bier fest, das sie auf ihrem Bauch abgestellt
hatte. »Setz dich doch«, sagte Ann und zeigte auf den Liegestuhl von vorhin. »Wenn du’s erträgst, zuzuschauen, wie eine Schwangere trinkt und raucht. Wenn nicht, akzeptiere ich das total. Aber es ist nur die eine Zigarette und das eine Bier am Tag. Wenn die Kinder endlich im Bett sind, weißt du? Ich nenne es immer meine Meditationszeit.«
»Verstehe«, sagte Olive. »Na, dann meditier schön. Ich kann genauso gut reingehen.«
»O nein. Ich fände es schön, wenn du bleibst.«
In dem Dämmerlicht sah sie Ann lächeln. So verpönt es auch sein mochte, nach dem Äußeren zu gehen, Olive fand, dass Gesichter sehr viel aussagten. Trotzdem, die Gemütsruhe dieser Frau verblüffte sie. War Ann wirklich ein bisschen dumm? Olive hatte lange genug an der Schule unterrichtet, um zu wissen, dass sehr große Unsicherheit auch als Dummheit herüberkommen konnte. Sie ließ sich auf dem Liegestuhl nieder und wandte den Kopf ab. Sie wollte lieber nicht wissen, was in ihrem eigenen Gesicht zu lesen war.
Zigarettenrauch trieb an ihr vorbei. Sie konnte nicht fassen, dass jemand heutzutage allen Ernstes rauchte, sie empfand es fast als Angriff auf ihre Person. »Sag mal«, sagte Olive, »wird dir nicht schlecht davon?«
»Wie - vom Rauchen?«
»Ja. Ich hätte gedacht, das fördert die Übelkeit.«
»Welche Übelkeit?«
»Ich dachte, du musst dich so viel übergeben.«
»Übergeben?« Ann ließ die Zigarette in die Bierflasche fallen. Sie sah Olive an, die dunklen Brauen hochgezogen.
»Dir wird nicht schlecht, wenn du schwanger bist?«
»Ach was. Ich bin ein Pferd.« Ann klopfte sich auf den Bauch. »Ich werfe, und damit hat sich’s.«
»Anscheinend.« Olive fragte sich, ob das Mädchen beschwipst von dem Bier war. »Wo ist dein neuester Ehemann?«
»Er liest Theodore eine Geschichte vor. Die zwei bauen eine echt tolle Beziehung auf.«
Olive wollte schon fragen, wie es mit Theodores Beziehung zu seinem richtigen Vater aussah, aber dann schloss sie den Mund wieder. Vielleicht sprach man heutzutage nicht von »richtigen« Vätern.
»Wie alt bist du, Mom?« Ann kratzte sich am Hals.
»Ich bin zweiundsiebzig«, sagte Olive, »und ich habe Schuhgröße dreiundvierzig.«
»Ach, cool, ich hab auch dreiundvierzig. Ich hatte schon immer große Füße. Du siehst gut aus für
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