Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
ich keine Ahnung«, sagte Christopher. Er klang wie Henry - diese geistesabwesenden Antworten, die Henry manchmal gegeben hatte: Hab ich keine Ahnung.
»Gut, es ist ein ziemlich verbreiteter Name«, räumte Olive ein. »Trotzdem könntest du ihn fragen, ob er in irgendeiner Weise mit Jim O’Casey verwandt ist.«
Christopher schüttelte den Kopf. »Muss nicht sein.« Er gähnte und streckte sich, den Kopf gegen die Lehne gedrückt.
Zum ersten Mal gesehen hatte sie ihn bei einer Bürgerversammlung in der Turnhalle der Schule. Sie und Henry saßen auf Klappstühlen ziemlich weit hinten, und dieser Mann stand in der Nähe der Zuschauertribüne, gleich bei der Tür. Er war groß, die Augen von der Stirn überwölbt, die Lippen schmal - irgendwie irisch. Der Blick nicht direkt brütend, aber ernst; er betrachtete sie mit sehr viel Ernsthaftigkeit. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen, obwohl sie ihn ganz bestimmt nie zuvor gesehen hatte. Im Lauf des Abends streiften sich ihre Blicke immer wieder.
Beim Hinausgehen machte jemand sie miteinander bekannt, und sie erfuhr, dass er vorher in West Annett gewohnt hatte, wo er an der Akademie unterrichtete. Er war mit seiner Familie hergezogen, weil sie mehr Platz brauchten; sie wohnten jetzt draußen auf der Farm der Robinsons. Sechs Kinder. Katholisch. So ein großer Mann, Jim O’Casey, aber als sie einander vorgestellt wurden, wirkte er fast schüchtern, senkte geradezu demütig den Kopf, besonders als er Henry die Hand gab, als wollte er sich schon im Voraus bei dem Mann entschuldigen, dem er die Zuneigung seiner Frau stehlen würde. Bei Henry, der keine Ahnung hatte.
Als sie an diesem Abend aus dem Schulgebäude hinaus in die Winterluft trat, als sie mit dem munter redenden Henry zu ihrem Auto auf dem hinteren Parkplatz ging, wusste Olive, dass sie wahrgenommen worden war. Dabei war ihr nicht einmal klar gewesen, dass sie sich unsichtbar gefühlt hatte.
Im Herbst darauf kündigte Jim O’Casey in der Akademie
und wechselte an die Junior High School, an der Olive unterrichtete und auf die auch Christopher ging, und weil es auf dem Weg lag, nahm er sie beide jeden Morgen zur Schule mit und setzte sie jeden Nachmittag zu Hause ab. Sie war vierundvierzig, er dreiundfünfzig. Sie hatte sich praktisch alt gefühlt, aber natürlich war sie es nicht. Sie war eine große Frau, und die Pfunde, die mit den Wechseljahren kamen, begannen sich eben erst anzudeuten, so dass sie mit ihren vierundvierzig einfach groß und vollschlank war. Und so, ohne auch nur das leiseste Warnzeichen, als käme ein riesiger lautloser Lastwagen daher, während sie eine stille Landstraße entlangschlenderte, wurde Olive Kitteridge umgeworfen und überrollt.
»Wenn ich dich bitten würde, mit mir fortzugehen, würdest du es tun?« Er fragte es mit ruhiger Stimme, als sie in der Mittagspause in seinem Büro saßen.
»Ja«, sagte sie.
Er ließ sie nicht aus den Augen, während er den täglichen Apfel aß, der sein ganzes Mittagessen darstellte. »Und du würdest heute Abend nach Hause gehen und es Henry sagen?«
»Ja«, sagte sie. Es war, als würden sie einen Mord planen.
»Dann ist es vielleicht gut, dass ich dich nicht gebeten habe.«
»Ja.«
Sie hatten sich nie geküsst, sich nicht einmal berührt, sie schoben sich nur eng aneinander vorbei, wenn sie in sein Büro gingen, ein winziges Kabuff neben der Bibliothek. Aber ab dem Tag, an dem er diese Worte zu ihr gesagt hatte, lebte sie in einer Art Todesangst und gleichzeitig voll von einem Verlangen, das ihr zeitweise schier unerträglich schien. Aber der Mensch ertrug vieles.
Es gab Nächte, in denen sie erst frühmorgens einschlief,
wenn der Himmel schon hell wurde und die Vögel sangen und die Anspannung in ihrem Körper sich löste, weil sie - trotz aller Furcht und allem Schrecken, die sie erfüllten - ihr unsinniges Glück nicht bezähmen konnte. Nach einer dieser Nächte, einer Samstagnacht, war sie wach und rastlos dagelegen, um dann von einer Minute auf die andere so fest einzuschlafen, dass sie, als das Telefon neben dem Bett klingelte, nicht gleich wusste, wo sie war. Und dann hatte sie gehört, wie der Hörer abgenommen wurde, und dann Henrys behutsame Stimme: »Ollie, es ist etwas Furchtbares passiert. Jim O’Casey ist heute Nacht von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gefahren. Er liegt in Hanover auf der Intensivstation. Sie wissen nicht, ob er durchkommt.«
Er starb noch am selben Nachmittag, und sie nahm an, dass
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