Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Theodore macht heute nämlich einen Ausflug«, sagte sie zu Olive, die sich beherrschen musste,
um diesem verdammten glotzenden Balg nicht die Zunge herauszustrecken. »Sie fahren mit dem Kindergarten zum Strand, und ich habe Angst, dass er dehydriert wird.«
»Kann ich verstehen«, sagte Olive und steckte sich den Rest von ihrem Doughnut in den Mund. »Hat dir Chris von dem Hitzschlag erzählt, den er hatte, als wir damals in Griechenland waren? Er war zwölf. Ein Zauberdoktor kam und hat mit seinen Armen irgendwelche Schlangenbewegungen über ihm gemacht.«
»Echt?«, sagte Ann. »Theodore, möchtest du Traubensaft oder Orangensaft?«
»Traubensaft.«
»Ich glaube «, sagte Ann, »bei Traubensaft kriegst du schneller wieder Durst. Wie siehst du das, Mom? Kriegt man von Traubensaft nicht schneller wieder Durst als von Orangensaft?«
»Hab ich keine Ahnung.«
»Orangensaft, Süßer.« Und Theodore brach in Geheul aus. Ann sah etwas ängstlich zu Olive herüber. »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du ihn vielleicht in den Kindergarten bringen kannst, gleich hier um die Ecke …«
»Nein«, heulte Theodore, »die soll mich nicht zum Kindergarten bringen … ich will nicht, dass sie mich zum Kindergarten bringt …«
Hältst du wohl den Mund, dachte Olive. Chris hat ganz recht, du bist eine kleine Pest.
Ann sagte: »Ach, Theodore, bitte nicht schon wieder.«
Olive stieß ihren Stuhl zurück. »Wie wär’s, wenn ich mit Dog-Face in den Park rübergehe?«
»Und es macht dir nichts, seine Haufen aufzu heben?«
»Nein«, sagte Olive. »Ganz gewiss nicht. Nachdem ich selber in einen getreten bin.«
Etwas unheimlich war es ihr doch, mit dem Hund in den Park zu gehen. Aber der Hund benahm sich. Er setzte sich hin, wenn sie an der Ampel warten mussten. Sie führte ihn vorbei an Picknicktischen und gigantischen Abfallkörben, die überquollen von Essensresten und Zeitungen und Alufolie mit Resten von Barbecue-Sauce daran, und er zog an seiner Leine, aber nur ein bisschen, und als sie die Wiese erreichten, ließ sie ihn frei laufen, wie Ann es ihr gesagt hatte. »Schön dableiben«, sagte sie. Er schnüffelte herum, rannte aber nicht weg.
Ein Mann fiel ihr auf, der zu ihr hersah. Er war jung und trug eine Lederjacke, obwohl es so warm war, dass kein Mensch eine Lederjacke brauchte. Er stand vor dem Stamm einer riesigen Eiche und rief nach seinem Hund, einem kurzhaarigen weißen Hund mit spitzer rosa Schnauze. Der Mann schlenderte zu ihr herüber. »Sind Sie Olive?«, fragte er nach einer Weile.
Ihr Gesicht fing zu brennen an. »Was für eine Olive?«, sagte sie.
»Die Mutter von Christopher. Ann hat mir erzählt, dass Sie zu Besuch kommen.«
»Aha«, sagte Olive und holte ihre Sonnenbrille aus der Tasche. »Tja, da bin ich.« Sie setzte die Sonnenbrille auf und wandte sich ab, um den Hund zu beobachten.
»Wohnen Sie auch mit im Haus?«, erkundigte sich der Mann nach einer Pause, und Olive fand, dass ihn das eigentlich nichts anging.
»Tu ich«, sagte Olive. »Das Kellerzimmer ist sehr hübsch.«
»Ihr Sohn hat Sie in den Keller gesteckt?«, fragte der Mann, und diese Bemerkung empfand Olive als geradezu unverschämt.
»Es ist ein sehr wohnlicher Keller«, sagte sie. »Ich fühle mich ganz wohl dort.« Sie sah geradeaus, aber sie konnte
spüren, dass er sie beobachtete. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er noch nie eine alte Frau gesehen hatte.
Sie sah dem Hund ihres Sohnes zu, wie er am Hinterteil eines vorbeitrottenden Golden Retrievers schnupperte, dessen vollbusige junge Besitzerin einen Metallbecher in der einen Hand hielt und die Leine in der anderen.
»Manche von diesen alten Sandsteinhäusern haben Ratten und Mäuse im Keller«, bemerkte der Mann.
»Keinerlei Ratten«, sagte Olive. »Ein sehr netter Weberknecht ist an mir vorbeispaziert. Wir haben uns ausgezeichnet vertragen.«
»Die Praxis von Ihrem Sohn muss ja ziemlich gut laufen. Solche Häuser kosten inzwischen ein Vermögen.«
Olive würdigte ihn keiner Antwort. Nur vulgäre Menschen sagten so etwas.
»Blanche!«, rief der Mann und setzte seinem Hund nach. »Blanche, kommst du wohl her!«
Blanche dachte gar nicht daran, herzukommen. Blanche hatte einen alten Taubenkadaver gefunden, und der Mann tobte. »Aus, Blanche, aus, hab ich gesagt!« Blanche behielt das tote Vieh in ihrer spitzen Schnauze und schlich vor ihrem nahenden Herrchen weg.
»Gott, wie eklig«, sagte die vollbusige Frau mit dem Golden Retriever, denn die blutigen
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