Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
ihren Platz in der Schlange verlassen musste, um zu einem Telefon zu gelangen, denn wenn sie Christopher anrief, dann würde er kommen und sie holen, ganz bestimmt - sie würde betteln, sie würde heulen, alles, solange er sie nur aus dieser Hölle errettete. Sie waren aneinandergeraten, ja und? Manchmal geriet man eben aneinander. Aber als sie sich umblickte, sah sie, dass es nirgends einen Münzfernsprecher gab; alle hatten ein Mobiltelefon am Ohr kleben und redeten und redeten, alle hatten sie je manden, mit dem sie reden konnten.
(Die Gemütsruhe, mit der er diese Küchensachen gespült hatte, während sie schluchzte! Selbst Ann hatte aus dem Zimmer gehen müssen. Hast du das wirklich alles verdrängt? Heutzutage würde sofort jemand vom Jugendamt vor der Tür stehen, wenn ein Kind so zur Schule käme.
Warum quälst du mich so?, hatte sie geschluchzt. Wovon redest du? Mein Leben lang habe ich dich geliebt. Und so vergiltst du es mir?
Er hatte mit dem Abspülen aufgehört. Und hatte in demselben ruhigen Ton gesagt: Gut. Dann gibt es nichts mehr, was ich noch sagen kann. )
Der Mann, zu dem sie gesagt hatte, sie müsse ihren Sohn anrufen, sah sie an, sah dann weg. Sie konnte ihren Sohn nicht anrufen. Er war grausam. Und seine Frau war auch grausam.
Olive wurde von dem kleinen Meer von Menschen mitgetragen: aufrücken, Handtasche auf das Band legen, aufrücken, Bordkarte bereithalten. Ein Mann winkte sie an die Torsonde, mürrisch. Schaute nach unten, sagte ausdruckslos: »Schuhe ausziehen, Ma’am. Ziehen Sie die Schuhe aus.«
Sie stellte sich vor, wie sie dastehen würde, die zerfetzte Strumpfhose für alle sichtbar wie bei einer Irrenhäuslerin. »Ich denk gar nicht dran«, hörte sie sich sagen. »Es ist mir piepegal, ob das Flugzeug in die Luft fliegt. Es interessiert mich einen Dreck, wenn es euch hier in tausend Stücke zerreißt.« Sie sah den Mann eine kaum merkliche Handbewegung machen, und schon standen zwei Leute neben ihr, beides Männer, und eine halbe Sekunde später kam auch eine Frau dazu. Sicherheitsbeamte in diesen weißen Hemden mit den Litzen auf den Brusttaschen.
Sehr sanft sagten sie: »Kommen Sie bitte mit, Ma’am.«
Sie nickte, blinzelnd hinter ihrer Sonnenbrille, und sagte: »Aber gern.«
Strafbar
An diesem Vormittag stahl Rebecca Brown eine Zeitschrift, obwohl das normalerweise nicht ihre Art war. Normalerweise nahm Rebecca nicht mal die Seife aus einem Motel an der Route 1 mit, und nie wäre es ihr eingefallen, etwa die Handtücher einzustecken. Ihre Erziehung verbot es ihr. Überhaupt verbot Rebeccas Erziehung ihr eine ganze Menge, und vieles davon hatte sie trotzdem getan - nur gestohlen hatte sie noch nie. Aber in dem tristen Weiß einer Arztpraxis in der Stadt Maisy Mills stahl Rebecca eine Zeitschrift. Es stand eine Geschichte darin, die sie zu Ende lesen wollte, und sie dachte: Es ist ja nur eine Arztpraxis und nur eine Zeitschrift, da ist es nicht so schlimm.
Die Geschichte handelte von einem ganz normalen, leicht schwabbeligen Mann mit beginnender Glatze, der jeden Mittag heimkam und sich mit seiner Frau an den Küchentisch setzte, und dann aßen sie belegte Brote und redeten über den Rasenmäher, der zur Reparatur musste, lauter solche Sachen. In Rebecca regte sich beim Lesen das gleiche hoffnungsvolle Gefühl, wie wenn sie abends durch eine Seitenstraße ging und in einem Fenster ein Kind sah, das im Schlafanzug noch spielte, und sein Vater verwuschelte ihm das Haar.
Also rollte Rebecca, als die Sprechstundenhilfe ihr Fensterchen aufschob und den nächsten Namen aufrief, die Zeitschrift zusammen und ließ sie in ihrem Rucksack verschwinden.
Sie hatte kein schlechtes Gewissen deswegen. Sie war sogar sehr zufrieden, als sie in den Bus stieg und wusste, dass sie die Geschichte nun fertig lesen konnte.
Aber die Frau des Mannes wollte mehr vom Leben, als samstags zum Baumarkt fahren und jeden Tag Sandwiches essen, nur weil mal wieder Mittag war, und am Ende der Geschichte hatte die Frau ihre Sachen gepackt und war ausgezogen, und der Mann kam zum Essen nicht mehr nach Hause. Er blieb über Mittag einfach im Büro und aß gar nichts. Rebecca war es ein bisschen schlecht, als sie mit der Geschichte durch war; sie gehörte nicht zu den Leuten, die im Bus lesen können. Der Bus fuhr um eine Kurve, und das Heft fiel ihr herunter, und als Rebecca es aufhob, hatte sich eine Werbung für ein Herrenhemd aufgeschlagen. Das Hemd erinnerte an einen Malerkittel, an der Brust
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