Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
daran verzweifelte er, und als er schließlich bei Dr. Dr. Murray Goldstein gelandet war und ihm von seinem Plan berichtet hatte, sich in Den Haag mit Menschen zu befassen, deren Fußsohlen in Fetzen hingen und deren Körper und Seelen Trümmerfelder waren, hatte Dr. Goldstein gesagt: »Wie kaputt wollen Sie denn noch werden?«
    Das Kaputte zog ihn an. Klara - was für ein Name - Klara Pilkington erschien ihm als der normalste Mensch, dem er je begegnet war. Sagte das nicht schon alles? Sie hätte ein Schild um den Hals tragen sollen: KOMPLETT KAPUTTE KLARA.
    »Du kennst ja sicher den alten Spruch«, sagte Mrs. Kitteridge. »Psychiater sind plemplem, Kardiologen herzlos …«
    Jetzt sah er sie doch an. »Und Kinderärzte?«
    »Tyrannen«, gab Mrs. Kitteridge zu. Sie hob die Schultern.
    Kevin nickte. »Jaja«, sagte er leise.
    Nach einer Weile sagte Mrs. Kitteridge: »Weißt du, deine Mutter konnte wahrscheinlich nicht anders.«
    Darauf war er nicht vorbereitet. Es drängte ihn entsetzlich, an seinen Fingerknöcheln zu saugen, und er strich mit den Händen an seinen Knien auf und ab, spürte das Loch in seiner Jeans. »Ich glaube, meine Mutter war bipolar«, sagte er. »Es ist natürlich nie diagnostiziert worden.«

    »Verstehe.« Mrs. Kitteridge nickte. »Heutzutage hätte man ihr helfen können. Mein Vater war nicht bipolar. Er war depressiv. Und er hat nie geredet. Vielleicht hätte man ihm heute auch helfen können.«
    Kevin schwieg. Vielleicht auch nicht, dachte er.
    »Mein Sohn. Er hat die Depression geerbt.«
    Kevin sah sie an. Kleine Schweißtröpfchen glitzerten in den Kerben unter ihren Augen. Sie war doch deutlich gealtert, merkte er jetzt. Natürlich sah sie anders aus als damals - die Mathelehrerin, vor der die Siebtklässler sich fürchteten. Sogar er hatte sich vor ihr gefürchtet, obwohl er sie mochte.
    »Was macht er beruflich?«, fragte er.
    »Er ist Podologe.«
    Er konnte ihre Traurigkeit förmlich greifen. Die Böen fauchten jetzt aus allen Richtungen, so dass die Wellenkämme durcheinanderschwappten und die Bucht aussah wie eine wild verschnörkelte Torte mit blau-weißem Guss. Die Pappeln neben dem Clubhaus bogen sich alle in eine Richtung und schienen die flatternden Blätter kaum noch halten zu können.
    »Ich habe oft an dich gedacht, Kevin Coulson«, sagte sie. »Das kannst du mir glauben.«
    Er schloss die Augen. Er hörte, wie sie ihr Gewicht verlagerte, wie die Steinchen auf der Gummimatte knirschten, als ihr Fuß darüberscharrte. Er wollte schon sagen: Ich will nicht, dass Sie an mich denken, als sie fortfuhr: »Ich habe deine Mutter immer gemocht.«
    Er öffnete die Augen. Patty Howe war wieder aus dem Clubhaus gekommen. Sie steuerte auf den Fußweg zu, der vor dem Haus entlangführte, und eine Unruhe breitete sich in seiner Brust aus; es war nackter Fels dort vorn, wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, nackter Fels, der steil zum Wasser abfiel. Aber das war ihr sicher auch klar.

    »Ich weiß«, sagte Kevin und sah Mrs. Kitteridge mitten in ihr großes, intelligentes Gesicht. »Sie hat Sie auch gemocht.«
    Olive Kitteridge nickte. »Gescheit. Sie war eine gescheite Frau.«
    Er fragte sich, wie lange das wohl noch so gehen sollte. Trotzdem, es bedeutete ihm etwas, dass sie seine Mutter gekannt hatte. In New York hatte sie keiner gekannt.
    »Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber bei meinem Vater war es das Gleiche.«
    »Was?« Er runzelte die Stirn, fuhr sich mit dem Zeigefinger kurz zwischen den Lippen hindurch.
    »Selbstmord.«
    Er wollte, dass sie ging; es war höchste Zeit, dass sie ging.
    »Bist du verheiratet?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nein, mein Sohn auch nicht. Macht meinen armen Mann ganz wahnsinnig. Bei Henry müssen immer alle verheiratet sein, alle glücklich. Ich sage, Himmelherrgott, warum darf er sich denn nicht Zeit damit lassen? Hier oben bei uns ist die Auswahl ein bisschen dürftig. In New York hast du bestimmt die …«
    »Ich bin nicht in New York.«
    »Wie bitte?«
    »Ich - ich bin nicht mehr in New York.«
    Er spürte, wie sie zu einer Frage ansetzte, wie gern sie sich umgedreht und den Rücksitz inspiziert hätte, nachgeschaut, was er alles dabeihatte. Wenn sie das tat, müsste er sagen, dass er in Eile war, sie bitten, auszusteigen. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, aber sie starrte weiter geradeaus.
    Patty Howe hatte eine Gartenschere dabei, sah er. Mit wehendem Rock stand sie zwischen den Dünenrosen und schnitt ein paar von den weißen Blüten

Weitere Kostenlose Bücher