Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
kurz zu ihr hinüber, abschiednehmend. Zu dumm, dass sie ihm hatte begegnen müssen, aber seine Schuld war es ja nicht. Gegenüber Dr. Goldstein hatte er sich schuldig gefühlt, denn der war ihm aufrichtig ans Herz gewachsen, aber selbst das war in den Hintergrund getreten, als er einmal den Turnpike entlangfuhr.
Olive Kitteridge nahm ein Kleenex aus ihrer großen schwarzen Handtasche. Sie tupfte sich damit die Stirn, den Haaransatz, ohne Kevin anzusehen. »Wenn ich ihm nur nicht diese Gene vererbt hätte«, sagte sie.
Kevin verdrehte heimlich die Augen. Die Frage nach den Genen, DNS, RNS, Chromosom 6, die ganze Dopamin-Serotonin-Scheiße, nichts davon interessierte ihn mehr. Im Gegenteil, es machte ihn zornig, so wie ein Verrat einen zornig macht. »Wir sind ganz kurz davor, die Funktionsweise des Gehirns auf einer realen, molekularen Ebene zu verstehen«,
hatte ein namhafter Wissenschaftler letztes Jahr in einer Vorlesung gesagt. Der Anbruch eines neuen Zeitalters.
Ständig brach irgendein neues Zeitalter an.
»Nicht, dass der Junge nicht auch ein paar zweifelhafte Gene von Henrys Seite mitbekommen hätte, weiß Gott. Seine Mutter war verrückt wie ein Märzhase, wissen Sie. Grauenhaft.«
»Wessen Mutter?«
»Die von Henry. Von meinem Mann.« Mrs. Kitteridge holte ihre Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. »Wobei man heutzutage wahrscheinlich gar nicht mehr von ›verrückt‹ sprechen darf, oder?« Sie sah ihn an. Er war drauf und dran gewesen, das Handgelenk an den Mund zu ziehen, aber jetzt legte er die Hände zurück in den Schoß.
Bitte verschwinde, dachte er.
»Aber sie hatte drei Nervenzusammenbrüche und wurde mit Elektroschocks behandelt. Das müsste doch eigentlich zählen.«
Er zuckte die Achseln.
»Na, auf jeden Fall war sie ziemlich komisch. Das ist schon mal sicher.«
Verrückt war, wenn man eine Rasierklinge nahm und sich damit lange Streifen in den Oberkörper ritzte. In die Schenkel, die Arme. KOMPLETT KAPUTTE KLARA. Das war verrückt. In seiner ersten Nacht mit ihr hatte er die Striemen gespürt. »Ich bin hingefallen«, hatte sie geflüstert. Er hatte sich vorgestellt, wie sie zusammen leben würden. Kunstdrucke an der Wand, Sonne, die zum Schlafzimmerfenster hereinflutete. Freunde an Thanksgiving, ein Christbaum, weil Klara bestimmt einen Christbaum haben wollte.
»Die Frau ist Gift für Sie«, hatte Dr. Goldstein gesagt.
Es stand Dr. Goldstein nicht zu, so etwas zu sagen. Aber sie war Gift für ihn gewesen: eben noch liebevoll und zärtlich,
im nächsten Moment eine Furie. Die Sache mit den Rasierklingen - es hatte ihn wahnsinnig gemacht. Wahnsinn schürt Wahnsinn. Und dann war sie abgehauen, denn das war Klaras Art, alles und jeden ließ sie im Stich. Auf zu neuen Ufern, mitsamt ihrer Besessenheit. Sie schwärmte für die geisteskranke Carrie A. Nation, die große Verfechterin des Alkoholverbots, die durch die Lande zog, Kneipen mit der Axt kurz und klein schlug und hinterher die Äxte verkaufte. »Ist das nicht obercool?«, hatte Klara gefragt und dazu an ihrer Sojamilch genippt. So war das mit ihr. Von einer Sache zur nächsten, immer Feuer und Flamme.
»Nach einer unglücklichen Liebesgeschichte ist jeder lädiert«, hatte Dr. Goldstein gesagt.
Ganz so stimmte das nicht. Kevin kannte Leute, die unglückliche Liebesgeschichten hinter sich hatten und nicht lädiert waren. Vielleicht nicht viele, aber ein paar. Olive Kitteridge schnäuzte sich.
»Ihr Sohn«, sagte Kevin unvermittelt. »Kann er denn noch praktizieren?«
»Wie meinst du das?«
»Mit seiner Depression. Geht er noch jeden Tag in die Arbeit?«
»Ja, sicher.« Mrs. Kitteridge nahm die Sonnenbrille ab und warf ihm einen kurzen, durchdringenden Blick zu.
»Und Mr. Kitteridge? Geht es ihm gut?«
»Doch, ja. Er denkt daran, vorzeitig in Rente zu gehen. Sie haben die Apotheke verkauft, und er müsste für die neue Kette arbeiten, und da gibt es alle möglichen blödsinnigen Vorschriften. Schon traurig, wie sich diese Welt entwickelt.«
Es war immer traurig, wie sich diese Welt entwickelte. Und immer brach ein neues Zeitalter an.
»Was macht dein Bruder?«, erkundigte sich Mrs. Kitteridge.
Kevin war jetzt müde. Vielleicht war das gut so. »Lebt in
Berkeley auf der Straße, nach allem, was ich weiß. Er ist drogensüchtig.« Die meiste Zeit hatte Kevin nicht das Gefühl, überhaupt einen Bruder zu haben.
»Wo ist dein Vater noch mal von hier aus hingezogen? Texas? Kann das sein? Hatte dein Vater nicht eine
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