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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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ab. Er hielt den Blick auf sie gerichtet, die schäumende Bucht als Hintergrund.
»Wie hat er es gemacht?« Er strich sich am Oberschenkel entlang.
    »Mein Vater? Sich erschossen.«
    Die vertäuten Boote bäumten sich auf und tauchten dann so steil wieder nach unten, als zerrte ein wütendes Unterwasserwesen an ihnen. Die weißen Dünenrosenblüten bogen sich, richteten sich auf, bogen sich erneut, ihr Blättergestrüpp wippte, als wäre es selber ein Meer. Er sah Patty Howe einen Schritt zurücktreten und die Hand schütteln, als hätte sie sich an den Dornen gestochen.
    »Ohne Abschiedsbrief«, sagte Mrs. Kitteridge. »Mein Gott, hat meine Mutter das gequält, dass kein Abschiedsbrief da war. Sie fand, er hätte ihr wenigstens einen Zettel hinlegen können, so wie er es beim Einkaufen immer gemacht hatte. Ständig fing sie wieder davon an: ›Er hat immer daran gedacht, mir einen Zettel zu schreiben, wenn er irgendwo hinging.‹ Dabei war er ja gar nirgends hingegangen. Er lag daheim in der Küche, der Ärmste.«
    »Reißen diese Boote sich eigentlich manchmal los?« Kevin rief sich die Küche im Haus seiner Eltern vor Augen. Eine 22er Patrone konnte eine Meile weit fliegen, Bretter von über zwanzig Zentimetern Dicke durchschlagen. Aber nach einer Schädeldecke, einer Zimmerdecke - wie weit kam sie da noch?
    »Manchmal schon. Nicht so oft, wie man meinen könnte, bei diesen Böen hier. Aber ab und zu passiert es doch, und dann gibt es jedes Mal einen Mordsaufruhr. Sie müssen hinterher und aufpassen, dass es nicht an den Felsen zerschellt.«
    »Und dann wird der Segelclub wegen verletzter Sorgfaltspflicht verklagt?« Er fragte es, um sie vom Thema abzubringen.
    »Keine Ahnung«, sagte Mrs. Kitteridge, »wie so etwas
gehandhabt wird. Verschiedene Absprachen mit den Versicherungen, nehme ich an. Menschliches Versagen versus höhere Gewalt.«
    In der Sekunde, in der Kevin sich eingestand, dass ihm ihre Stimme angenehm war, kam auch schon der Adrenalinschub, diese vertraute, furchtbare Gier, der nicht totzukriegende Instinkt, weiterleben zu wollen. Er blinzelte heftig aufs Meer hinaus. Dicke graue Wolken zogen auf, zwischen denen die Sonne, wie um sich nicht ausstechen zu lassen, gelbe Strahlen hindurchschoss, so dass das Wasser an vereinzelten Stellen wild und fröhlich glitzerte.
    »Erschießen ist bei Frauen ja eigentlich eher ungewöhnlich«, sagte Mrs. Kitteridge nachdenklich.
    Er sah sie an; sie erwiderte seinen Blick nicht, starrte nur hinaus auf das brodelnd heranflutende Wasser. »Tja, meine Mutter war eine ungewöhnliche Frau«, sagte er grimmig.
    »Ja«, sagte Mrs. Kitteridge. »Allerdings.«
     
    Als Pattys Schicht um war, hatte sie die Schürze abgebunden und war in die Kammer gegangen, um sie dort aufzuhängen, und dabei hatte sie durch das staubige Fenster die gelben Taglilien bemerkt, die auf dem kleinen Rasenflecken hinter dem Clubhaus blühten. Sie würden sich gut in einer Vase neben ihrem Bett machen, dachte sie. »Ich bin doch auch enttäuscht«, hatte ihr Mann beim zweiten Mal gesagt und hinzugefügt: »Aber ich weiß, dir muss es vorkommen, als würde es ganz allein dir passieren.« Patty wurden die Augen feucht vor Zärtlichkeit, als sie jetzt daran dachte. Diese Lilien würde keiner vermissen. Kaum jemand ging hier am Clubhaus vorbei, schon weil der Pfad so schmal war, der Abhang so steil. Aus Versicherungsgründen hatten sie kürzlich ein DURCHGANG-VERBOTEN-Schild aufgestellt, und inzwischen war sogar die Rede von einem Zaun, damit nicht doch noch
irgendein Kind in den Büschen verschwand. Aber Patty wollte nur rasch ein paar Lilien abschneiden und sich dann auf den Weg machen. In einer der Schubladen fand sie die Gartenschere und ging hinaus, um sich ihren Strauß zu pflücken. Bei Kevin Coulson, sah sie, saß jetzt Mrs. Kitteridge im Auto, und es gab ihr ein besseres Gefühl, die alte Lehrerin bei ihm zu wissen. Wieso, hätte sie nicht sagen können, und sie dachte auch nicht groß darüber nach. Unglaublich, wie windig es geworden war. Sie würde ganz schnell ihre Blumen holen, sie in nassen Küchenkrepp einwickeln und auf dem Heimweg bei ihrer Mutter vorbeischauen. Erst beugte sie sich über die wilden Rosenbüsche, sie dachte, das Weiß sähe sicher hübsch aus zu dem Gelb, aber die Zweige wogten im Wind, und sie stach sich in die Finger. Also lief sie hinaus auf den Pfad, um sich die Lilien zu holen.
     
    Kevin sagte: »Also, Mrs. Kitteridge, es war nett, Sie wiederzusehen.« Er nickte

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