Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Stelle in Texas angenommen?«
Kevin nickte.
»Er wird so weit von hier weggewollt haben wie nur möglich. Zeit und Entfernung, heißt es ja immer. Wobei ich nicht weiß, ob das stimmt.«
Um dem Gespräch ein Ende zu machen, sagte Kevin nüchtern: »Mein Vater ist letztes Jahr an Leberkrebs gestorben. Er hat nie wieder geheiratet. Und ich habe ihn sehr wenig gesehen, nachdem ich ausgezogen war.«
Bei keinem von Kevins vielen Abschlüssen an all den Colleges und Universitäten, auf die er mit seinen diversen Stipendien gegangen war, hatte sein Vater sich blicken lassen. Aber jede neue Stadt hatte wieder Hoffnung in Kevin geweckt. Jeder neue Ort schien ihm zu verheißen: Hier gehörst du her - hier kannst du leben. Kannst ausruhen . Hier ist Platz für dich. Die gewaltigen Himmel des Südwestens, die Schatten, die über die Wüstenberge fielen, die zahllosen Kakteen mit roten Spitzen oder mit gelben Blüten, manche oben auch einfach abgeplattet, all das hatte ihn freier gemacht in seiner ersten Zeit in Tucson, als er lange Wanderungen unternommen hatte, allein erst, später mit Kommilitonen. Vielleicht war Tucson ihm am liebsten gewesen, wenn er gezwungen wäre zu wählen - diese weiten Staubflächen, der krasse Gegensatz zu der zerklüfteten Küstenlandschaft hier.
Aber überall gab es diese verheißungsvolle Andersartigkeit - Dallas mit seinen weißen verglasten Hochhäusern, der Chicagoer Hyde Park mit seinen Alleen und den Holztreppen auf der Rückseite jeder Wohnung (die Treppen hatte er fast
am meisten geliebt), West Hartford, wo alles wie aus dem Bilderbuch aussah, die Häuser, die makellosen Rasenflächen -, und überall war ihm früher oder später klar geworden, dass eben doch kein Platz für ihn war.
Bei seiner Abschlusszeremonie in Chicago, zu der er nur einer Dozentin zuliebe ging - einer freundlichen Frau, die gesagt hatte, es würde sie traurig machen, wenn er wegblieb -, saß er in der prallen Sonne und hörte den Rektor seine Ansprache mit den Worten beschließen: »Nichts im Leben ist so wichtig wie Lieben und Geliebtwerden«, und tief in ihm regte sich eine Angst, die wuchs und sich immer weiter ausbreitete, bis für seine Seele schier kein Platz mehr war. Aber was für ein Satz - dieser Mann in seinem ehrwürdigen Talar, mit seinem weißen Haar und dem großväterlichen Gesicht, er konnte nicht ahnen, wie sehr seine Worte die stumme Panik in Kevin verschlimmerten. Selbst Freud hatte gesagt: »Wir müssen lieben, sonst werden wir krank.« Man stieß ihn andauernd darauf. Jede Reklametafel, jeder Film, jedes Illustriertencover, jede Fernsehwerbung - alle stießen sie ihn mit der Nase darauf: Es gibt eine Welt des Zusammenhalts und der Liebe. Und du gehörst nicht dazu.
New York, seine letzte Station, schien die größten Hoffnungen bereitzuhalten. All diese tristen Farben in den U-Bahnen, all diese gereizt aussehenden Menschen - es entspannte ihn, die unterschiedlichen Kleiderstile zu betrachten, die Einkaufstüten, all die vielen Leute, die dösten oder lasen oder zu irgendeiner Melodie aus ihren Kopfhörern vor sich hin nickten; die U-Bahnen hatte er geliebt, und eine Zeitlang auch seine Arbeit in den Krankenhäusern. Aber nach seiner Affäre mit Klara und dem Ende, das sie nahm, war ihm die Stadt verleidet gewesen, die Straßen erschienen ihm nur noch überfüllt und nervtötend, ein ödes Einerlei. Dr. Goldstein mochte er, aber sonst niemanden; alle anderen ödeten ihn an,
und immer öfter hatte er bei sich gedacht, was für Provinzler die New Yorker doch waren und wie wenig sie es wahrhaben wollten.
Wonach er sich zunehmend sehnte, war das Haus seiner Kindheit, ein Haus, in dem er (selbst jetzt im Auto empfand er das noch) keinen Tag lang glücklich gewesen war. Und doch hatte die Erinnerung an sein Unglück dort etwas seltsam Süßes, ein bisschen wie die Erinnerung an eine Liebesgeschichte. Denn Kevin besaß durchaus ein paar Erinnerungen an süße, kurze Liebesgeschichten - so gänzlich anders als die endlose Quälerei mit Klara -, aber keine davon konnte mithalten mit seiner heimlichen Sehnsucht, seinem Verlangen nach diesem Haus, wo sämtliche Sweatshirts und Wolljacken nach feuchtem Salz und modrigem Holz stanken. Ihm war übel geworden davon, so übel wie von dem Geruch des Holzfeuers, das sein Vater manchmal im offenen Kamin angezündet hatte, um dann geistesabwesend darin zu stochern. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch im ganzen Land, dachte Kevin, der den Geruch von
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