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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Holzfeuer hasste. Aber das Haus, die mit wildem Geißblatt durchwucherten Bäume, die vereinzelte Blüte eines Frauenschuhs, so unverhofft zwischen den Kiefernnadeln, die spitzen Blätter der Maiglöckchen - das vermisste er.
    Er vermisste seine Mutter.
    I’ve made this awful pilgrimage … I’ve come back for more … Kevin hatte sich schon oft gewünscht, den Dichter John Berryman gekannt zu haben.
    »Als ich jung war«, sagte Mrs. Kitteridge, die Sonnenbrille in der Hand, »als ich klein war, besser gesagt, hab ich mich immer in der Truhe versteckt, wenn mein Vater nach Hause kam. Und er hat sich auf die Truhe gesetzt und gesagt: ›Wo ist denn Olive? Wo kann Olive nur sein?‹ Das ging eine Zeitlang so, und dann hab ich von drinnen geklopft, und er hat
überrascht getan. ›Olive‹, hat er gesagt, ›ich hätte nie gedacht, dass du da drin bist.‹ Und dann habe ich gelacht, und er auch.«
    Kevin sah sie an. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und sagte: »Keine Ahnung, wie lange wir das gespielt haben, wahrscheinlich, bis ich endgültig nicht mehr in die Truhe gepasst habe.«
    Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er presste so unauffällig wie nur möglich die Hände ineinander, den Blick auf das Lenkrad gesenkt. Er spürte ihre massige Gegenwart und stellte sich - flüchtig - vor, ein Elefant säße neben ihm, ein Elefant, der der Welt der Menschen angehören wollte und der unschuldig seine Vorderbeine im Schoß faltete und ein klein bisschen mit dem Rüssel pendelte, nachdem er fertiggesprochen hatte.
    »Das ist eine nette Geschichte«, sagte er.
    Er dachte an den Jungen mit den Fischen, an die Art, wie sein Vater ihm die Hand hingestreckt hatte. Ihm fiel noch einmal John Berryman ein. Save us from shotguns & fathers’ suicides … Mercy! … do not pull the trigger or all my life I’ll suffer from your anger … Ob Mrs. Kitteridge als Mathematiklehrerin wohl auch Gedichte kannte?
    »Wie das weht da draußen«, sagte sie. »Irgendwie hat so ein Wetter ja auch immer was Spannendes - solange einem der Steg nicht wegtreibt wie unserer früher. Ständig musste Henry auf die Felsen da runter, mitten hinein in die Brandung. Gott, war das eine Aufregung.«
    Wieder ertappte Kevin sich dabei, dass er ihre Stimme gern hörte. Durch die Windschutzscheibe sah er die Wellen, die jetzt höher schlugen, so hart gegen den Felsvorsprung beim Clubhaus klatschten, dass die Gischt hoch aufschoss und dann träge wieder hinabfiel, in feinen Tröpfchen durch die Sonnenkeile rieselte, die sich noch immer zwischen den
dunklen Wolken hervorzwängten. Ihm wurde fast ein bisschen schwindelig von dem wilden Auf und Ab. Nicht weggehen, beschwor er Mrs. Kitteridge stumm. Nicht weggehen.
    Aber dieser Aufruhr in ihm war die Hölle. Gestern Morgen in New York war er zu seinem Auto gegangen und hatte es im ersten Moment nicht gesehen. Und kurz hatte ihn Furcht gepackt, denn nun hatte er alles geplant und organisiert, und wo war das Auto? Aber da stand es, gleich vor ihm, der alte Subaru Kombi, und dann begriff er, dass dieses Gefühl nicht Furcht, sondern Hoffnung gewesen war. Hoffnung wucherte in ihm wie ein Krebs. Er wollte sie nicht; er wollte das alles nicht. Er ertrug sie nicht länger, die zarten grünen Hoffnungstriebe, die immer wieder in ihm keimten. Diese furchtbare Geschichte von dem Mann, der von der Golden Gate Bridge gesprungen war (und überlebte), nachdem er eine Stunde weinend auf der Brücke auf und ab gegangen war, und später erzählte, wenn ein Mensch stehen geblieben wäre und ihn gefragt hätte, warum er weinte, dann wäre er nicht gesprungen.
    »Mrs. Kitteridge, Sie müssen jetzt …«
    Aber sie hatte sich vorgebeugt und blinzelte durch die Windschutzscheibe. »Halt, was zum Teufel …« Und mit einer Geschwindigkeit, wie er sie bei ihr niemals für möglich gehalten hätte, sprang sie aus dem Auto und lief, ohne die Tür zuzuwerfen, am Clubhaus vorbei; ihre schwarze Tasche blieb im Gras liegen. Sie verschwand für einen Moment, erschien dann wieder, armeschwenkend und rufend, auch wenn er nicht verstand, was sie sagte.
    Er stieg aus dem Wagen und war verblüfft über die Wucht, mit der der Wind sein Hemd beutelte. Mrs. Kitteridge schrie: »Schnell! Komm schnell!« Mit den Armen wedelnd wie eine riesenhafte Möwe. Er rannte zu ihr und spähte hinunter ins Wasser, das noch höher stand, als er gedacht hatte. Mrs. Kitteridge deutete mit wilden Armbewegungen, und dann sah er
zwischen den Schaumkronen den

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