Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
konnte. Wenn Fremde sie im Einkaufszentrum draußen in Cook’s Corner sahen, konnte es durchaus passieren, dass sie sich ein-, zweimal verstohlen nach ihr umdrehten. Die Einheimischen dagegen fanden an Angies Anblick nichts Sonderbares. Sie war einfach Angie O’Meara, die Frau am Klavier, und sie spielte schon etliche Jahre im Warehouse. Sie liebte außerdem seit etlichen Jahren den Stadtratsvorsitzenden, Malcolm Moody. Manche Leute wussten das, andere nicht.
An diesem Freitagabend war es nur noch eine Woche bis Weihnachten, und nicht weit von dem Stutzflügel stand ein großer Tannenbaum, den das Personal über und über mit Schmuck behängt hatte. Das silberne Lametta flatterte ein bisschen, sooft die Eingangstür aufging, und zwischen den bunten Kugeln und Girlanden aus Popcorn und Preiselbeeren, die die Äste des Baums leicht nach unten zogen, leuchteten hühnereigroße Glühbirnen in allen Farben.
Angie trug einen schwarzen Rock und ein rosa Nylonoberteil mit einem kleinen Ausschnitt am Schlüsselbein, und alles an ihr, das zarte Perlenkettchen um ihren Hals, das rosa Oberteil, das tiefrote Haar, schien mit dem Baum um die Wette zu
leuchten, so als wäre sie selber Teil des Festschmucks. Sie war wie immer um Punkt sechs gekommen, im Mund ein Pfefferminzbonbon, hatte mit ihrem vagen, kindlichen Lächeln Joe, den Barkeeper, und Betty, die Kellnerin, begrüßt und dann ihre Handtasche und den Mantel am Ende des Tresens verstaut. Joe, ein stämmiger Mann, der schon viele Jahre hinter dieser Bar stand und dessen Blick so gut wie nichts entging, war irgendwann für sich zu dem Schluss gekommen, dass Angie O’Meara eine Heidenangst hatte, wenn sie abends zur Arbeit kam. Das erklärte auch die ganz leichte Fahne in ihrem Pfefferminzatem, die einem aus der Nähe auffallen konnte, und es erklärte, warum sie nie ihre zwanzig Minuten Pause in Anspruch nahm, die die Gewerkschaft vorschrieb und zu denen die Geschäftsleitung des Warehouse sie ausdrücklich ermutigte. »Ich hasse es, danach wieder anzufangen«, hatte sie eines Abends zu Joe gesagt, und seitdem stand für ihn fest, dass Angie ganz einfach an Lampenfieber litt.
Falls sie sonst an etwas litt, fühlte sich dafür niemand zuständig. Bei Angie war es so, dass die Leute sehr wenig von ihr wussten, gleichzeitig aber davon ausgingen, dass es andere gab, die mehr wussten. Sie wohnte in einer Einzimmerwohnung in der Wood Street, und sie hatte kein Auto. Ihre Einkäufe konnte sie zu Fuß erledigen, und auch zum Warehouse Bar & Grill kam sie zu Fuß - ein Weg, für den sie mit ihren extrem hochhackigen schwarzen Schuhen exakt fünfzehn Minuten brauchte. Im Winter trug sie extrem hochhackige schwarze Stiefel, einen Mantel aus weißem Kunstpelz und dazu eine kleine blaue Handtasche. So konnte man sie vorsichtig den schneebedeckten Bürgersteig entlangstöckeln sehen, dann den großen Parkplatz beim Postamt überqueren und schließlich in den schmalen Durchgang zur Bucht einbiegen, an dessen Ende das wuchtige, weißverschindelte Warehouse stand.
Joe hatte richtig getippt. Angie litt an Lampenfieber, und sie hatte sich vor Jahren angewöhnt, um Viertel nach fünf den ersten Schluck Wodka zu trinken, so dass sie sich, wenn sie dreißig Minuten später ihr Zimmer verließ, im Treppenhaus an der Wand festhalten musste. Aber der Fußmarsch vertrieb den Nebel aus ihrem Kopf und ließ ihr doch ausreichend Selbstvertrauen, um zum Klavier zu gehen, den Deckel hochzuklappen, sich hinzusetzen und zu spielen. Diese allerersten Töne waren es, die ihr am meisten Angst machten, denn das war der Moment, da die Leute wirklich hinhörten. Sie veränderte die Stimmung im ganzen Raum. Es beängstigte sie, so viel Verantwortung. Und deshalb spielte sie drei Stunden durch, ohne Pause: um die Stille zu vermeiden, die sich über den Raum senkte, die lächelnden Blicke, die sich auf sie richteten, wenn sie sich zum Spielen hinsetzte. Nein, sie mochte die Aufmerksamkeit überhaupt nicht. Was sie mochte, war das Spielen selbst. Nach den ersten zwei Takten war Angie glücklich. Es war ein Gefühl, als würde sie in die Musik hineintauchen. Wir sind eins, pflegte Malcolm Moody immer zu sagen. Lass uns eins werden, Angie - was hältst du davon?
Angie hatte nie Klavierunterricht gehabt, aber kaum jemand glaubte ihr das. Also hatte sie vor langer Zeit aufgehört, es zu erzählen. Mit vier Jahren hatte sie sich an das Klavier in der Kirche gesetzt und zu spielen angefangen, und es hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher