Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
damals so wenig überrascht wie heute. »Meine Hände sind hungrig«, hatte sie als kleines Mädchen zu ihrer Mutter gesagt, und genau das war es - Hunger. Die Kirche hatte ihrer Mutter einen Schlüssel überlassen, und bis heute konnte Angie jederzeit dort spielen, wenn ihr danach war.
Hinter sich hörte sie die Tür aufgehen, spürte den kalten Luftzug, sah das Lametta am Weihnachtsbaum flattern und hörte die laute Stimme von Olive Kitteridge, die sagte: »Tja, Pech. Ich mag’s, wenn’s kalt ist.«
Wenn die Kitteridges allein ins Warehouse kamen, dann kamen sie meist früh und setzten sich nicht erst in die Lounge, sondern gingen gleich durch in den Speisesaal. Trotzdem rief Henry jedes Mal: »Schönen guten Abend, Angie!«, und lächelte breit zu ihr herüber, und Olive schwenkte in einem angedeuteten Gruß die Hand überm Kopf. Henrys Lieblingslied war »Good Night, Irene«, und wenn Angie nicht zu abgelenkt war, spielte sie es für ihn, wenn die Kitteridges beim Gehen wieder an ihr vorbeikamen. Viele Leute hatten ein Lieblingslied, und manchmal spielte Angie es für sie und manchmal nicht. Bei Henry Kitteridge war das etwas anderes. Sein Lied spielte sie immer, denn ihn zu sehen war für sie wie eine Brise milder Luft.
Heute Abend war Angie nicht ganz auf dem Damm. Es gab inzwischen Abende, da bewirkte ihr Wodka nicht, was er so viele Jahre lang bewirkt hatte, er sorgte nicht dafür, dass sie fröhlich wurde und alles angenehm weit weg erschien. Heute - und das geschah neuerdings öfter - fühlte sie sich ein bisschen sonderbar im Kopf, ein bisschen daneben. Sie achtete darauf, dass sie das Lächeln nicht vergaß, und sah niemanden an außer Walter Dalton, der am Ende des Tresens saß. Er warf ihr eine Kusshand zu. Sie zwinkerte, eine kaum merkliche Geste; man hätte es für ein Blinzeln halten können, hätte sie es nicht mit nur einem Auge gemacht.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war Malcolm Moody ganz verrückt nach diesem Zwinkern gewesen. »Mann, bringst du mich in Fahrt«, hatte er gesagt, wenn er nachmittags zu ihr in die Wood Street kam. Malcolm mochte Walter Dalton nicht und bezeichnete ihn als Schwuchtel, was er auch war. Walter war außerdem Trinker, er hatte seine Stelle am College verloren und wohnte jetzt in einem Haus auf Coombs Island. Aber Walter versäumte keinen Abend, an dem Angie in der Bar spielte. Manchmal brachte er ihr ein Geschenk mit -
einen Seidenschal, ein Paar Lederhandschuhe mit winzigen Knöpfen an der Seite. Seinen Autoschlüssel gab er immer gleich Joe, und nach der Sperrstunde fuhr Joe ihn dann oft nach Hause, und einer von den Hilfskellnern fuhr in Joes Auto hinterher, damit Joe auch wieder heimkam.
»Was für eine armselige Existenz«, hatte Malcolm gesagt. »Hockt Abend für Abend nur da und lässt sich volllaufen.«
Angie hörte es nicht gern, wenn Leute armselig genannt wurden, aber sie sagte nichts. Manchmal, nicht oft, dachte Angie, dass man auch ihr Leben mit Malcolm armselig nennen könnte. Etwa wenn sie einen sonnigen Gehsteig entlangging, oder auch, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte. Dann fing ihr Herz hart zu klopfen an, und sie rief sich alles ins Gedächtnis, was er im Lauf der Jahre zu ihr gesagt hatte. Am Anfang hatte er gesagt: »Ich denke ununterbrochen an dich.« Er sagte immer noch: »Ich liebe dich.« Vereinzelt: »Was täte ich bloß ohne dich, Angie?« Er machte ihr nie Geschenke, und sie hätte auch keine von ihm gewollt.
Wieder hörte sie die Eingangstür aufgehen und zufallen, wieder spürte sie kurz den kalten Luftzug von draußen. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Mann in einem dunklen Mantel, der sich in einen der Sessel hinten im Eck sinken ließ, und etwas an der Art, wie er sich duckte oder sich bewegte, kam ihr vage bekannt vor. Aber sie war nicht auf dem Damm heute Abend.
»Schätzchen«, flüsterte sie Betty zu, die mit einem Tablett voller Gläser an ihr vorbeiging, »sagst du Joe bitte, ich brauche einen kleinen Irish Coffee?«
»Natürlich«, sagte Betty, ein nettes Mädchen, klein wie ein Kind. »Gar kein Problem.«
Sie trank ihn einhändig, ohne »Have a Holly Jolly Christmas« zu unterbrechen, und zwinkerte Joe zu, der gravitätisch nickte. Wenn der Abend um war, würde sie mit Joe und
Walter einen Drink nehmen, und sie würde ihnen von ihrem Besuch bei ihrer Mutter im Altenheim erzählen und vielleicht oder vielleicht auch nicht von den Blutergüssen am Arm ihrer Mutter.
»Ein Musikwunsch, Angie.« Betty ließ im
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