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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Kopf von Patty Howe auftauchen, das Haar nass und dunkel, wie ein Seehundskopf, einen Moment nur, dann war sie wieder weg, nur ihr Rock kämpfte noch mit dem dunklen Seetanggewirr.
    Kevin drehte sich um und ließ sich mit ausgebreiteten Armen die Steilwand hinabrutschen, aber es gab nichts, woran er sich festhalten konnte, es gab nur die Steinfläche, die an seiner Brust scheuerte, ihm die Kleider zerriss, die Haut darunter schrammte, die Backe, und dann schlug das kalte Wasser über ihm zusammen. Die Kälte war atemberaubend, er fühlte sich wie in einem riesigen Reagenzglas voll giftiger Chemikalien, die sich ihm durch die Haut fraßen. In all dem Schäumen und Schwappen stieß sein Fuß an etwas Festes, und da sah er auch schon, wie sie nach ihm zu greifen versuchte, die Augen geöffnet, den Rock um den Leib gewunden, ihre Finger streckten sich ihm entgegen, verfehlten ihn, streckten sich wieder nach ihm aus, und er bekam sie zu fassen. Sekundenlang wich das Wasser zurück, und als die nächste Welle heranrollte und sie überspülte, zog er sie zu sich her, und sie klammerte sich an ihn mit einem Griff, wie er ihn ihr nie zugetraut hätte; unglaublich, dass solche dünnen Arme ihn so fest umklammern konnten.
    Wieder hob das Wasser sie hoch, beide schnappten sie nach Luft; wieder gingen sie unter, und sein Bein hakte sich um etwas, ein altes Rohr, etwas Starres. Beim nächsten Mal reckten beide die Köpfe hoch, als die Welle sie freigab, holten erneut Atem. Von oben hörte er Mrs. Kitteridge etwas schreien. Einzelne Worte waren nicht auszumachen, aber er verstand, dass Hilfe unterwegs war. Er musste nur dafür sorgen, dass Patty bei ihm blieb, und als sie wieder hinabgesaugt wurden, verstärkte er seinen Griff um ihren Arm, als Botschaft an sie: Ich lass dich nicht los. In dem salzschweren, strudelnden Wasser, wo durch jede Welle die Sonne blitzte,
starrte er in ihre offenen Augen und wünschte sich, dass dieser Moment niemals vorbeiginge: oben auf dem Felsen die dunkelhaarige Frau, die Hilfe für sie holte, hier unten das Mädchen, das einmal wie eine Königin Seil gesprungen war und ihn nun mit einer Kraft umschlang, die der des Ozeans in nichts nachstand - o aberwitzige, absurde, unbegreifliche Welt! Schau dir an, wie sehr sie leben will, schau dir an, wie eisern sie festhält.

Frau am Klavier

    Vier Abende die Woche saß Angela O’Meara in der Cocktail-Lounge des Warehouse Bar & Grill am Klavier. Die gemütliche Cocktail-Lounge, mit ihren verstreuten Sofas, tiefen Clubsesseln und niedrigen Couchtischen war das Erste, was man sah, wenn man durch die schwere Tür des alten Gebäudes trat; der Speisesaal kam ein Stück weiter hinten, mit Fenstern aufs Wasser hinaus. Zu Wochenbeginn war die Lounge meist relativ leer, von Mittwochabend bis Samstag dagegen wurde es richtig voll. Sobald man die dicke Eichentür aufstieß, hörte man schon das Klavier, ein unaufhörlich perlendes Klimpern, und die Stimmen der Gäste, die am Tresen standen, sich auf den Sesseln vorbeugten oder auf den Sofas zurücklehnten, waren entsprechend gedämpft, so dass das Klavier nicht etwa die Hintergrundmusik lieferte, sondern den Ton angab. Mit anderen Worten, für die Bewohner von Crosby im Staate Maine waren Angie O’Meara und ihre Cocktailmusik seit Jahren eine feste Instanz.
    Als junge Frau war Angie bildhübsch gewesen mit ihrem welligen roten Haar und dem makellosen Teint, und in vieler Hinsicht war sie es immer noch. Aber jetzt hatte sie die fünfzig überschritten, und ihr Haar, das sie locker mit Kämmen zurücksteckte, war in einem Ton gefärbt, den man möglicherweise eine Spur zu rot finden konnte, und ihre Figur, obwohl nach wie vor anmutig, wurde um die Mitte herum leicht
füllig, was umso mehr auffiel, als sie ansonsten recht dünn war. Trotzdem, ihre Taille war lang, und wenn sie sich auf die Klavierbank setzte, tat sie es mit der Leichtigkeit einer Ballerina, wenn auch einer, die ihre großen Tage hinter sich hat. Ihre Kinnpartie war nicht mehr straff, und die Fältchen um ihre Augen schnitten tief ein. Aber es waren freundliche Fältchen; nichts Bitteres, so schien es, war diesem Gesicht widerfahren. Eher gab es sich zu rückhaltlos preis in einer Art naiver Erwartung, die fehl am Platz wirkte bei einer Frau ihres Alters. Es war so etwas Gewisses an ihrer Kopfhaltung, an der ganz leichten Derangiertheit ihres überroten Haars und dem offenen Blick ihrer blauen Augen, das jemandem, der sie nicht kannte, zu denken geben

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