Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
Fuß auf.
    »So einen Gefühlsaufwand ist sie doch gar nicht wert, oder, Janie? Ich meine, sag doch selbst«, sagte Bob, und aus den Augenwinkeln sah sie, dass er ihr nicht das Gesicht zuwandte, als er es sagte.
    In dem Schweigen, das folgte, nahm Janes Wut zu, sie wurde ungeheuer, sie schwoll um sie beide an wie Wasser, als wäre das Auto von einer Brücke abgekommen und in einen Teich gefahren - abgestandenes, kaltes Zeug schwappte überall.
    »Die hat doch vor lauter Friseurterminen nicht mal mitgekriegt, dass ihre Tochter schwanger ist. Keine Ahnung hatte sie. Wahrscheinlich bis heute nicht. Sie hat bis heute keine Ahnung, dass ich es war, die ihre Tochter vor all diesen Jahren getröstet hat. Die ganz krank war vor Sorge um sie!«
    »Du warst immer sehr lieb zu diesen Mädchen.«
    »Aber die Jüngere - Patty. Die war ein Miststück. Ich hab ihr nie über den Weg getraut, und Tracy hätte es besser auch gelassen.«
    »Wovon redest du jetzt?«
    »Tracy war einfach zu harmlos. Erinnerst du dich nicht an diese Pyjamaparty von ihr, wo sie hinterher so ein Häuflein Elend war?«
    »Es muss über die Jahre an die hundert Pyjamapartys bei uns gegeben haben, Jane. Nein, an diese spezielle Party erinnere ich mich nicht.«
    »Patty Granger hat Tracy erzählt, eins von den anderen Mädchen würde sie nicht mögen. Sie konnte dich noch nie so richtig leiden, weißt du. « Jane war fast den Tränen nahe bei der Erinnerung. Ihr Kinn kribbelte.

    »Was sagst du da? Du mochtest Patty doch so.« »Ich hab Patty durchgefüttert«, erwiderte Jane hitzig. »Ich hab dieses verdammte Mädchen jahrelang durchgefüttert. Die Eltern waren ja nie zu Hause, die mussten ja immer durch die Weltgeschichte gondeln, eine Party hier, eine Abendgesellschaft da, und um ihre Kinder durften sich andere Leute kümmern.«
    »Janie, beruhig dich.«
    »Bitte sag mir nicht, ich soll mich beruhigen«, sagte sie. »Bitte sag das nicht, Bob.«
    Sie hörte seinen unterdrückten Seufzer, stellte sich vor, wie er im Dunkeln mit den Augen rollte.
    Den Rest des Wegs fuhren sie schweigend, vorbei an Lichterketten, blinkenden Rentieren; Jane sah aus dem Fenster, die Hände in die Manteltaschen gestemmt. Erst als die Stadt hinter ihnen zurückblieb, auf dem langgezogenen, letzten Stück die Basing Hill Road entlang, begann sie wieder zu sprechen, leise, mit einem Unterton echter Verwirrung: »Bobby, ich wusste nicht, dass du am Flughafen in Orlando die Lydias getroffen hast. Das hast du mir nie erzählt, ganz bestimmt nicht.«
    »Du wirst es vergessen haben. Es ist ja schon so lange her.«
    Vor ihnen schimmerte die Mondsichel durch die Bäume, eine blitzende kleine Paillette auf dem Himmelsschwarz, und plötzlich begriff Jane. Es war die Art, wie dieses Lydia-Weib sie am Fuß der Treppe angesehen und gleich wieder weggeschaut hatte. Jane ließ ihre Stimme jetzt bewusst ruhig klingen, beiläufig fast. »Bobby«, sagte sie, »bitte sag mir die Wahrheit. Es war doch der Flughafen von Miami, stimmt’s?«
    Und als er keine Antwort gab, spürte sie ein Ziehen im Unterleib, irgendwo tief in ihr regte sich ein uralter Schmerz - wie müde er sie machte, dieser unverwechselbare, vertraute Druck. Schwere schien sich in ihr auszubreiten, eine schwärzliche
Silbermasse, so kam es ihr vor, die alles unter sich begrub, die Lichterketten draußen, die Straßenlaternen, den frischgefallenen Schnee; alle Schönheit in den Dingen - ausgelöscht.
    »O Gott«, sagte sie. »Das darf nicht wahr sein.« Und dann noch einmal: »Das darf einfach nicht wahr sein.«
    Bob bog in ihre Einfahrt ein und stellte den Motor ab. Sie saßen nebeneinander. »Janie«, sagte er.
    »Sag’s mir.« So ruhig. Sie seufzte sogar. »Bitte sag es.«
    Im Dunkel des Autos konnte sie hören, dass sein Atem rascher ging, genau wie ihr eigener. Sie wollte ihm sagen, dass ihre Herzen zu alt für so etwas waren, dass man einem Herzen so etwas nicht endlos antun konnte, nicht endlos von seinem Herzen verlangen konnte, dass es das mitmachte.
    In dem trüben Lichtschein der Verandalampe sah sein Gesicht schauerlich aus, gespenstisch. Nicht, dass er ihr plötzlich noch starb! »Sag’s mir einfach«, wiederholte sie, sanfter jetzt.
    »Sie hatte Brustkrebs, Janie. Sie hat mich im Büro angerufen, im Frühjahr vor meiner Pensionierung, und ich hatte jahrelang nichts von ihr gehört. Wirklich jahrelang, Janie.«
    »Und weiter?«, sagte Jane.
    »Sie war ziemlich verzweifelt. Ich hab mich schuldig gefühlt.« Er sah sie immer

Weitere Kostenlose Bücher