Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
noch nicht an, er starrte über das Lenkrad hinweg. »Ich dachte … ich weiß nicht. Du kannst mir glauben, es wäre mir lieber gewesen, sie hätte nicht angerufen.« Jetzt lehnte er sich zurück und atmete tief durch. »Ich musste nach Orlando, um dieses Konto aufzulösen, also hab ich ihr gesagt, ich schaue bei ihr vorbei, und das hab ich getan. Ich bin runter nach Miami gefahren und habe sie besucht, und es war furchtbar, es war zum Heulen, und am nächsten Tag bin ich von Miami aus zurückgeflogen, und da hab ich die Grangers getroffen.«
»Du hast die Nacht mit ihr in Miami verbracht?« Jane hatte zu zittern begonnen; ihre Zähne hätten geklappert, wenn sie sie gelassen hätte.
Bob legte den Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen. »Ich wollte eigentlich noch am Abend nach Orlando zurückfahren. So hatte ich mir das gedacht. Aber es wurde zu spät. Ich hatte das Gefühl, ich konnte nicht einfach weg, und offengestanden war es auch so spät, dass es mir fast ein bisschen gefährlich vorgekommen wäre, mich noch ans Steuer zu setzen. Es war furchtbar, Janie. Wenn ich dir nur einen Begriff davon geben könnte, wie dumm und grauenhaft und erbärmlich es war.«
»Und wie oft hast du sie seitdem gesprochen?«
»Ich hab sie einmal angerufen, ein paar Tage nach meiner Rückkehr, und das war’s. Das ist die Wahrheit.«
»Ist sie tot?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte ich es von Scott gehört, wenn sie gestorben wäre, oder von Mary, deshalb nehme ich eher an, sie lebt noch. Aber ich habe keine Ahnung.«
»Denkst du an sie?«
In dem Halbdunkel sah er sie flehend an. »Jane, ich denke an dich. Mir geht es um dich. Nur um dich. Janie, es ist vier Jahre her. Das ist eine lange Zeit.«
»Nein, ist es nicht. In unserem Alter ist das, als würde man kurz ein paar Seiten umblättern. Witsch-witsch.« Sie machte eine Handbewegung im Dunkeln, ein rasches Hin und Her.
Darauf sagte er nichts, er suchte nur ihren Blick, ohne den Kopf von der Kopfstütze zu heben, fast als wäre er von einem Baum gefallen und läge nun hilflos auf dem Rücken, außerstande, etwas anderes zu bewegen als die Augenbälle, mit denen er sie ansah, erschöpft und unsagbar unglücklich. »Alles, was zählt, bist du. Sie bedeutet mir nichts. Sie zu
sehen hat mir nichts bedeutet. Ich hab es nur getan, weil sie es wollte.«
Jane sagte: »Das verstehe ich nicht. Ich meine, an dem Punkt, an dem wir mit unserem Leben sind, verstehe ich das einfach nicht. Weil sie es wollte ?«
»Ich kann’s dir nicht vorwerfen, Janie. Es ist absurd. Es war so - so gar nichts.« Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand, die in ihrem Handschuh noch größer wirkte.
»Ich muss reingehen. Ich erfrier sonst.« Sie stieg aus und lief die Stufen zur Veranda hinauf, so schnell, dass sie Angst hatte zu stolpern, aber sie stolperte nicht. Sie wartete, bis er die Tür aufgeschlossen hatte, und ging dann an ihm vorbei in die Küche und weiter durchs Esszimmer ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa setzte.
Er folgte ihr und knipste die Lampe an, dann setzte er sich auf den Couchtisch, direkt vor sie. Eine lange Zeit saßen sie sich einfach nur gegenüber. Und sie wusste, ihr Herz war wieder neu gebrochen. Nur war sie jetzt alt, deshalb fühlte es sich anders an. Er zog den Mantel aus.
»Kann ich dir irgendwas bringen?«, fragte er. »Möchtest du einen Kakao? Tee?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Lass mich wenigstens deinen Mantel nehmen, Janie.«
»Nein«, sagte sie. »Mir ist kalt.«
»Also bitte, Janie.« Er ging nach oben und kam mit ihrer Lieblingsjacke zurück, einem gelben Angorastrickjäckchen.
Sie legte es sich auf den Schoß.
Er setzte sich neben sie auf das Sofa. »Ach, Janie«, sagte er. »Ich hab dir so weh getan.«
Nach einer Weile ließ sie sich von ihm in die Jacke helfen. »Wir werden alt«, sagte sie dann. »Und irgendwann sterben wir.«
»Janie.«
»Ich hab Angst davor, Bobby.«
»Komm jetzt ins Bett«, sagte er. Aber sie schüttelte den Kopf. Sie entzog sich dem Arm, den er um sie gelegt hatte, und fragte: »Hat sie nie geheiratet?«
»O nein«, sagte er. »Nein, sie hat nie geheiratet. Du darfst sie nicht ernst nehmen, Janie.«
Jane schwieg und sagte dann: »Ich will nicht über sie reden.«
»Ich auch nicht.«
»Nie wieder.«
»Nie wieder.«
Sie sagte: »Uns wird ganz einfach die Zeit knapp.«
»Nein. Uns bleibt noch Zeit zusammen. Wir haben vielleicht noch zwanzig Jahre vor uns.«
Und als er das sagte,
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