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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Gebälk.
    »Das war Patty. Kein so nettes Mädchen wie Lydia.« Jane beugte sich näher an ihren Mann heran und flüsterte: »Lydia hatte in der High School eine Abtreibung, wusstest du das?«
    »Ja, daran erinnere ich mich.«
    »Das weißt du?« Jane sah ihn verblüfft an.
    »Sicher«, sagte Bob. »Du hast mir erzählt, dass sie immer mit Bauchkrämpfen zu dir ins Krankenzimmer kam. Und einmal kam sie und hat zwei Tage geweint.«
    »Genau«, sagte Jane. Allmählich wurde ihr wärmer. »Die Ärmste. Mir schwante ja gleich so was, offengestanden, und ziemlich bald danach hat Becky es mir bestätigt. Das wundert mich jetzt, dass du das noch weißt.« Sie kaute nachdenklich an ihrer Lippe, wippte ein paarmal mit dem Fuß.
    »Wieso?«, sagte Bob. »Denkst du, ich höre nicht zu? Ich hab zugehört, Janie.«
    Aber sie winkte ab und seufzte und setzte sich aufrechter hin, bevor sie in grüblerischem Ton sagte: »Ich hab echt gern da gearbeitet.« Und es stimmte. Am liebsten hatte sie die unfertigen
jungen Mädchen gehabt, diese ängstlichen Mädchen mit ihren linkischen Bewegungen und der fettigen Haut, die zu laut redeten, aggressiv ihre Kaugummis schnalzen ließen oder mit hängendem Kopf durch die Gänge schlurften - doch, sie hatte sie geliebt. Und die Mädchen hatten es gewusst. Sie kamen mit ihren schrecklichen Unterleibskrämpfen zu ihr auf die Krankenstation, mit grauen Gesichtern und trockenen Lippen lagen sie auf der Liege. »Mein Vater sagt, es ist alles bloß Einbildung«, hatte mehr als eine erzählt; ach, es hatte ihr das Herz gebrochen. Wie einsam man als junges Mädchen doch war! Manchmal ließ sie sie den ganzen Nachmittag im Krankenzimmer bleiben.
    Allmählich füllte die Kirche sich. Olive Kitteridge kam herein, groß und breitschultrig in einem marineblauen Mantel, ihr Mann ein Stückchen hinter ihr. Henry Kitteridge berührte seine Frau am Arm und deutete auf eine Bank gleich neben ihnen, aber Olive schüttelte den Kopf und ging noch zwei Reihen weiter vor. »Wie er es bloß mit ihr aushält«, murmelte Bob Jane zu.
    Sie konnten sehen, wie die Kitteridges sich setzten, wie Olive sich den Mantel von den Schultern zog und ihn dann, unter Mithilfe von Henry, wieder umlegte. Olive Kitteridge war Mathematiklehrerin an der Schule gewesen, an der auch Jane gearbeitet hatte, aber die beiden Frauen hatten kaum einmal länger miteinander geredet. Olive hatte so etwas durch und durch Gnadenloses an sich; Jane hatte sich ferngehalten von ihr. Auf Bobs Bemerkung hin zuckte sie jetzt nur die Achseln.
    Als sie den Kopf wandte, stiegen die Lydias gerade die Stufen zur Empore hoch. »Ah, da sind sie«, sagte sie zu Bob. »Gott, haben wir uns lange nicht mehr gesehen. Sie sieht wirklich gut aus.«
    Er drückte ihre Hand und flüsterte: »Du aber auch.«

    Die Musiker kamen in ihren schwarzen Gewändern und nahmen ihre Plätze vorn bei der Kanzel ein. Notenständer wurden verstellt, Beine positioniert, Kinne gehoben, Bogen gefasst - dann das disharmonische Klanggemenge eines Orchesters beim Stimmen.
    Es war Jane unangenehm, etwas über Lydia Granger zu wissen, was Mrs. Lydia vielleicht bis heute nicht wusste. Es erschien ihr ungehörig, übergriffig. Aber gewisse Dinge kamen einem eben zu Ohren. Wenn man Schulschwester war oder eine rosahaarige Bibliothekarin, dann erfuhr man, wer mit einem Alkoholiker verheiratet war, wessen Kinder Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom hatten (so hieß das, jetzt wusste sie es wieder), wer mit Tellern schmiss, wer auf der Couch schlief. Ein scheußlicher Gedanke, dass irgendjemand hier in dieser Kirche Dinge über ihre Kinder wissen könnte, die sie selber nicht wusste. Sie beugte sich zu Bob hinüber und sagte: »Ich hoffe ja bloß, niemand hier in der Kirche weiß Dinge über meine Kinder, die ich nicht weiß.«
    Die Musik begann, und er zwinkerte ihr mit einem Auge zu, langsam, beruhigend.
    Während des Debussy döste er ein, die Arme vor der Brust verschränkt. Jane sah verstohlen zu ihm hinüber, und das Herz ging ihr auf, von der Musik und vor Liebe zu ihm, zu diesem Mann neben ihr, diesem alten(!) Mann, der bis heute am Trauma seiner Kindheit trug - einer Mutter, der er nichts, aber auch gar nichts hatte recht machen können. Fast meinte sie in seinen Zügen den kleinen Jungen von damals zu sehen, immer geduckt, immer verschüchtert; selbst jetzt, im Schlaf, lag in seinem Gesicht etwas Angespanntes, Banges. Ein Geschenk, dachte sie wieder und strich ihm mit der Hand in ihrem Fäustling

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