Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
heimlich, und er dachte, vielleicht blieb das nun ihr Leben lang so. Er erzählte es Olive, und sie sagte leise: »Auweia.«
Auf jeden Fall traten die Larkins, ihre vier Wände und die Dinge, die sich darin abspielen mochten, mit der Zeit in den
Hintergrund, bis das Haus mit seinen heruntergelassenen Jalousien schließlich nur noch eine Erhebung unter vielen in der wildzerklüfteten Küstenlandschaft war. Die Leute vergaßen ihre Neugierde und kehrten zu ihren eigenen Befindlichkeiten zurück. Zwei Jahre vergingen, fünf Jahre, sieben - und was Olive Kitteridge betraf, so quälte die Einsamkeit sie so sehr, dass sie daran zu ersticken meinte.
Ihr Sohn Christopher hatte geheiratet. Olive und Henry waren entsetzt gewesen über den Kommandoton der neuen Schwiegertochter, die in Philadelphia aufgewachsen war und als Weihnachtsgeschenk Dinge wie brillantbesetzte Tennisarmbänder erwartete (was war bitte ein Tennis armband? Aber Christopher kaufte ihr eins), ihr Essen im Restaurant zurückgehen ließ und einmal sogar den Koch aus der Küche herbeizitierte. Bei Olive, deren Wechseljahre kein Ende nehmen wollten, jagte eine Hitzewallung die andere, wenn sie mit ihr zusammen war, und einmal sagte Suzanne: »Es gibt ein Sojapräparat, das du nehmen könntest, Olive. Wenn dir eine Östrogensubstitution nicht geheuer ist.«
Olive dachte: Mir sind Leute nicht geheuer, die ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken. Laut sagte sie: »Ich muss die Tulpenzwiebeln einsetzen, bevor der Boden friert.«
»Ach?«, sagte Suzanne, die ihre Ignoranz in puncto Blumen schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte. »Pflanzt du die Tulpen jedes Jahr neu?«
»Natürlich«, sagte Olive.
»Ich glaube nicht, dass meine Mutter ihre jedes Jahr neu gepflanzt hat. Und hinter unsrem Haus gab es immer welche.«
»Ich glaube, wenn du deine Mutter fragst«, sagte Olive, »wirst du feststellen, dass du dich da täuschst. Die Tulpenblüte ist schon in der Zwiebel angelegt. Komplett. Ein Trieb. Mehr nicht.«
Das Mädchen lächelte auf eine Art, dass Olive ihr am liebsten eine gescheuert hätte.
Zu Hause sagte Henry: »Sag Suzanne nicht immer, dass sie unrecht hat.«
»Ach, verdammt«, sagte Olive, »ich sage ihr, was ich will.« Aber sie kochte Apfelmus und brachte ihnen ein Glas vorbei.
Die beiden waren keine vier Monate verheiratet, als Christopher eines Tages aus der Praxis anrief. »Hör mir mal kurz zu«, sagte er. »Suzanne und ich ziehen nach Kalifornien.«
Für Olive geriet die ganze Welt aus den Fugen. Da hatte sie ihr Leben lang gedacht, dies ist ein Baum und das hier ein Küchenherd - und nun war es gar kein Baum, und der Küchenherd war auch keiner. Wenn sie das ZU VERKAUFEN-Schild vor dem Haus sah, das sie und Henry für Christopher gebaut hatten, war es, als würden ihr Holzsplitter ins Herz getrieben. Zeitweise schluchzte sie so laut, dass der Hund winselte und ihr seine kalte Schnauze in den Arm bohrte. Sie brüllte den Hund an. Sie brüllte Henry an. »Wieso kann sie nicht tot umfallen?«, sagte Olive. »Einfach tot umfallen.« Und Henry wies sie nicht zurecht.
Kalifornien? Warum ganz ans andere Ende dieses riesigen Kontinents?
»Ich mag die Sonne«, sagte Suzanne. »Der Herbst in Neuengland ist ungefähr zwei Wochen lang schön, und danach wird es dunkel, und …« Sie lächelte, zuckte die Achseln. »Ich mag es einfach nicht, das ist alles. Ihr kommt uns bald mal besuchen.«
Es war ein Schlag, der verkraftet sein wollte. Henry war zu dem Zeitpunkt bereits im Ruhestand, früher als geplant - die Miete für die Apotheke war in die Höhe geschossen, und jetzt hatte eine große Drogeriemarktkette das Gebäude übernommen -, und er wusste oft nicht so recht, wie er seine Tage herumbringen sollte. Olive, die schon fünf Jahre eher zu
unterrichten aufgehört hatte, predigte ihm: »Mach dir einen Zeitplan und halte dich dran.«
Also belegte Henry an der Abendschule in Portland einen Kurs für Holzarbeiten und baute im Keller eine Drehbank auf, an der er nach und nach vier etwas schiefe, aber hübsche Salatschüsseln aus Ahornholz anfertigte. Olive brütete über Katalogen und bestellte einhundert Tulpenzwiebeln. Sie traten der American Civil War Society bei - Henrys Urgroßvater hatte bei Gettysburg gekämpft, sie hatten sogar noch seine alte Pistole in der Vitrine - und fuhren dafür einmal im Monat nach Belfast, wo sie mit anderen im Kreis saßen und Vorträgen über Schlachten und Helden lauschten. Sie fanden es interessant. Es
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