Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
würdest nicht mal einen Tag ohne mich überleben, Olive. Wenn ich morgen tot umfalle, was wird dann aus dir?«
»Ach, hör doch auf.« Es ärgerte sie, wenn er so etwas sagte,
und sie hatte das Gefühl, dass es ihm Spaß machte, sie zu ärgern. Manchmal setzte sie sich einfach allein ins Auto und fuhr durch die Gegend.
Die Einkäufe erledigte jetzt Henry. Eines Tages brachte er einen Blumenstrauß mit. »Für meine Frau«, sagte er und hielt ihn ihr hin. Es war ein gotterbärmliches kleines Bündel, weiße Margeriten mit blau und quietschrosa gefärbten dazwischen, einzelne davon fast schon hinüber.
»Tu sie da rein«, sagte Olive und zeigte auf eine alte blaue Vase. Da standen sie nun, auf dem Holztisch in der Küche. Henry kam zu ihr und legte die Arme um sie; es war herbstlich, ein kühler Tag, und sein Wollpullover roch schwach nach Sägespänen und Moder. Sie hielt still, bis die Umarmung zu Ende war. Dann ging sie nach draußen und pflanzte ihre Tulpenzwiebeln ein.
Eine Woche später - ein ganz normaler Morgen mit Einkäufen - fuhren sie in die Stadt, auf den Parkplatz vor dem großen Shop’n Save. Olive wollte im Auto sitzen bleiben und lesen, während er Milch und Orangensaft und ein Glas Marmelade holen ging. »Brauchen wir noch irgendwas?« Das fragte er. Olive schüttelte den Kopf. Henry stieß die Tür auf und schwang seine langen Beine hinaus. Das Knarzen der Autotür, sein Rücken in der karierten Jacke, dann die bizarre, unnatürliche Bewegung, mit der er aus dieser Haltung auf den Boden kippte.
»Henry!«, schrie sie.
Sie schrie ihn an, während sie auf den Krankenwagen wartete. Seine Lippen bewegten sich, seine Augen standen offen, und eine Hand zuckte immer wieder durch die Luft, als griffe sie nach etwas hinter Olive.
Die Tulpen blühten in absurder Pracht. Sie wuchsen den ganzen Hang hinab, fast bis zum Wasser, und die Nachmittagssonne
flutete ungehindert auf sie herab. Olive konnte sie aus ihrem Küchenfenster sehen: gelb, weiß, rosa, leuchtend rot. Sie hatte sie unterschiedlich tief eingepflanzt, das gab ihnen etwas reizvoll Unregelmäßiges. Wenn ein Luftzug sie sacht hin und her bog, sah es aus wie eine verzauberte Unterwasserwiese, all diese sich wiegenden Farben da draußen. Selbst vom »Faulenzerzimmer« aus - dem Zimmer, das Henry vor ein paar Jahren angebaut hatte, mit einer Fensterbucht, die so groß war, dass ein kleines Bett darin Platz hatte - sah sie die sonnenbeschienenen Blütenköpfe, und manchmal döste sie kurz ein, am Ohr ihr kleines Transistorradio, ohne das sie sich nie hinlegte. Um diese Tageszeit wurde sie immer müde, weil sie so früh aufstand, noch vor Sonnenaufgang. Der Himmel hellte sich gerade erst auf, wenn sie den Hund ins Auto packte und zum Fluss fuhr, um dort die drei Meilen hin und die drei Meilen zurück zu marschieren, während die Sonne über dem breiten Band aus Wasser emporstieg, auf dem ihre Vorfahren mit ihren Kanus von einem Seitenarm zum nächsten gepaddelt waren.
Der Gehweg war frisch asphaltiert, und wenn Olive zurückging, jagten erste Blader an ihr vorbei, jung und strotzend vor Gesundheit, mit kraftvollen spandexumschlossenen Schenkeln. Olive fuhr weiter zu Dunkin’ Donuts, las dort die Zeitung und steckte dem Hund ein paar Doughnut-Bällchen zu. Und dann fuhr sie zum Pflegeheim. Mary Blackwell arbeitete jetzt dort. Olive hätte zu ihr sagen können: »Inzwischen schaffen Sie’s hoffentlich besser, die Klappe zu halten«, weil Mary sie merkwürdig ansah, aber Mary Blackwell konnte ihr den Buckel runterrutschen - alle konnten sie ihr den Buckel runterrutschen. Schön aufgerichtet in seinem Rollstuhl, blind, immer lächelnd, wurde Henry von Olive in den Aufenthaltsraum geschoben, zu der Wand mit dem Klavier. Sie sagte: »Drück meine Hand, wenn du verstehst, was ich
sage«, aber seine Hand drückte ihre nicht. »Blinzle«, sagte sie, »wenn du mich hörst.« Er lächelte geradeaus. Abends fuhr sie dann wieder hin, um ihn mit dem Löffel zu füttern. Einmal durfte sie ihn hinaus auf den Parkplatz rollen, damit der Hund ihm die Hand lecken konnte. Henry lächelte. »Christopher kommt«, kündigte sie ihm an.
Als Christopher kam, lächelte Henry immer noch. Christopher war dicker geworden, und er hatte sich für den Besuch im Pflegeheim ein Hemd angezogen. Als er seinen Vater erblickte, schaute er entsetzt zu Olive. »Rede mit ihm«, befahl Olive. »Sag ihm, dass du hier bist.« Sie ließ sie allein, damit sie ein wenig für sich sein
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