Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
konnten, aber es dauerte nicht lange, bis Christopher sie suchen kam.
»Wo warst du?«, fragte er mürrisch. Aber seine Augen waren rot, und Olive ging das Herz auf.
»Ernährst du dich denn auch gesund in Kalifornien?«, fragte sie.
»Mein Gott, wie erträgst du das hier?«, fragte ihr Sohn.
»Gar nicht«, sagte sie. »Der Geruch klebt den ganzen Tag an einem.« Sie fühlte sich hilflos wie ein Schulmädchen; sie wollte es ihn um keinen Preis merken lassen, wie froh sie war, ihn dazuhaben, wie froh, nicht allein hinfahren zu müssen, wie froh, dass er neben ihr im Auto saß. Aber er blieb nicht die volle Woche. Es hätten sich Probleme in der Praxis ergeben, sagte er, er müsse zurück.
»Ist gut.« Sie brachte ihn zum Flughafen, den Hund auf dem Rücksitz. Das Haus war leerer denn je, selbst das Pflegeheim schien ihr verändert ohne Christopher.
Am nächsten Morgen schob sie Henry an seinen Platz neben dem Klavier. »Christopher kommt bald wieder«, sagte sie. »Er hat momentan noch viel Arbeit in der Praxis, aber dann kommt er. Er ist völlig auf dich fixiert, Henry. Ständig sagt er, was für ein toller Vater du bist.« Aber ihre Stimme
schwankte, und sie musste ein paar Schritte weggehen und durchs Fenster auf den Parkplatz hinausstarren. Sie hatte kein Taschentuch und drehte sich um, um sich eins zu holen. Da stand Mary Blackwell. »Ist was?«, fragte Olive sie. »Noch nie eine alte Frau weinen sehen?«
Sie ertrug das Alleinsein nicht. Noch weniger ertrug sie andere Leute.
Es machte sie ganz kribblig, in Daisy Fosters winzigem Esszimmer zu sitzen und Tee zu nippen. »Ich war bei diesem hirnrissigen Angehörigentreffen«, erzählte sie Daisy. »Und sie haben gesagt, es ist völlig normal, Wut zu empfinden. Mein Gott, so was Idiotisches. Warum soll ich verdammt noch mal Wut empfinden? Jeder weiß doch, dass so was kommen kann. Die wenigsten haben das Glück, einfach im Schlaf zu sterben.«
»Wahrscheinlich reagiert einfach jeder auf seine Weise«, sagte Daisy mit ihrer lieben Stimme. Eine liebe Stimme, zu mehr reicht’s bei ihr nicht, dachte Olive. Daisy war einfach lieb und nichts weiter. Zum Teufel mit dem ganzen Mist. Sie sagte, der Hund wartete auf sie, und ließ ihre noch volle Teetasse stehen.
Es war einfach so - sie ertrug niemanden. Alle paar Tage fuhr sie zur Post, und auch das war ihr unerträglich. »Wie geht es Ihnen?«, fragte Emily Buck sie jedes Mal, und schon darüber ärgerte sich Olive. »Geht schon«, sagte sie, aber sie hasste es, die Kuverts entgegenzunehmen, fast alle an Henry adressiert. Und die Rechnungen! Sie wusste nicht, was sie damit machen sollte, manche verstand sie nicht einmal - und so viel Reklame! Sie warf alles in den großen grauen Papierkorb, und manchmal rutschte eine Rechnung mit hinein, und dann musste sie sich vorbeugen und sie wieder herauswühlen, immer beobachtet von Emily an ihrem Schalter.
Ein paar Karten kamen bei ihr an. »Es tut mir leid … so traurig.« »Es hat mir sehr leidgetan, zu erfahren …« Sie beantwortete jede einzelne. »Kein Beileid«, schrieb sie. »Jeder weiß doch, dass so was passieren kann. Ich wüsste nicht, was daran irgendwem leidtun soll.« Nur ein- oder zweimal fragte Olive sich flüchtig, ob sie vielleicht nicht mehr ganz richtig im Kopf war.
Einmal die Woche rief Christopher an. »Kann ich dir irgendwas Gutes tun, Christopher?«, fragte sie dann und meinte damit: Tu mir etwas Gutes! »Soll ich einen Flug buchen und dich besuchen?«
»Nein«, sagte er jedes Mal. »Ich komm schon klar.«
Die Tulpen starben ab, das Laub färbte sich rot, die Blätter fielen, die Bäume standen kahl, es schneite. Alle diese Veränderungen beobachtete sie aus dem Faulenzerzimmer, wo sie auf der Seite lag und ihr kleines Radio an sich drückte, die Knie bis zur Brust hochgezogen. Hinter den hohen Fensterscheiben war der Himmel schwarz. Sie konnte drei winzige Sterne sehen. Im Radio führte eine ruhige Männerstimme Interviews oder las Nachrichten vor. Wenn die Wortbedeutungen sich zu verschieben schienen, wusste sie, dass sie kurz weggedämmert war. »Auweia«, sagte sie manchmal leise. Sie grübelte über Christopher nach, darüber, warum er nicht von ihr besucht werden wollte, warum er nicht an die Ostküste zurückkam. Vereinzelt streiften ihre Gedanken auch die Larkins: Besuchten sie immer noch ihren Sohn? Vielleicht blieb Christopher ja deshalb in Kalifornien, weil er auf eine Aussöhnung mit seiner Frau hoffte - was für eine
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