Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
grauenhafte Besserwisserin Suzanne doch gewesen war. Und dabei hatte sie keinen blassen Schimmer von irgendeiner Blume, die aus der Erde wuchs!
Eines bitterkalten Morgens machte Olive ihren Spaziergang, ging zu Dunkin’ Donuts, las die Zeitung im Auto, während
der Hund auf dem Rücksitz saß und winselte. »Ruhe«, sagte sie. »Sei still.« Das Winseln wurde lauter. »Sei still!«, schrie sie. Sie fuhr los. Sie fuhr zur Bücherei, ging aber nicht hinein. Sie fuhr zum Postamt, warf einen Packen Reklamesendungen in den Papierkorb und musste dann wieder hineinlangen und einen blassgelben Umschlag herausfischen, der keinen Absender trug und in einer fremden Handschrift adressiert war. Im Auto riss sie ihn auf: eine unbedruckte gelbe Karte. »Er war immer ein netter Mann, und ich bin sicher, er ist es auch jetzt noch.« Unterschrieben mit: Louise Larkin.
Am nächsten Morgen, im Dunkeln noch, fuhr Olive langsam am Haus der Larkins vorbei. Da, unter der Jalousie, schimmerte ein ganz schmaler Lichtstreif.
»Christopher«, sagte sie samstags darauf am Küchentelefon. »Louise Larkin hat mir wegen deinem Vater geschrieben.«
Keine Reaktion.
»Bist du noch dran?«, fragte sie.
»Doch«, sagte Christopher.
»Hast du gehört, was ich von Louise erzählt habe?«
»Mhm.«
»Und findest du es nicht interessant?«
»Nicht so richtig.«
Ein Schmerz blühte unter ihrem Brustbein auf, so kantig wie ein sich öffnender Kiefernzapfen.
»Ich weiß gar nicht, wie sie davon erfahren hat. Den ganzen Tag so verschanzt in diesem Haus.«
»Keine Ahnung«, sagte Christopher.
»Also dann«, sagte Olive. »Ich muss zur Bücherei. Bis bald.«
Sie setzte sich an den Küchentisch, vornübergelehnt, eine Hand auf ihrem dicken Bauch. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich umbringen konnte, wann immer es
ihr vonnöten schien. Das dachte sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, aber früher hatte sie dabei immer ihren Abschiedsbrief formuliert. Jetzt überlegte sie, dass sie überhaupt keinen Abschiedsbrief hinterlassen würde. Nicht einmal: »Christopher, was habe ich dir angetan, dass du mich so behandelst?«
Mit skeptischem Blick sah sie sich in der Küche um. Es gab Frauen, Witwen, die sich an ihr Zuhause klammerten, die starben, sobald man sie abtransportierte zum betreuten Wohnen. Aber Olive wusste nicht, wie sie es hier drin noch viel länger aushalten sollte. Sie hatte gewartet, ob sie Henry nicht vielleicht doch noch heimholen könnte. Sie hatte darauf gewartet, dass Christopher an die Ostküste zurückkam. Als sie aufstand, um den Autoschlüssel zu suchen - sie musste raus hier, schnellstens -, erinnerte sie sich wie von fern, wie sie als viel Jüngere aufbegehrt hatte gegen die Monotonie des Hausfrauenalltags, wie sie gegen dieses »Drecks-Sklavendasein« gewütet hatte, während Christopher dasaß und den Kopf einzog. Vielleicht hatte sie auch andere Worte gebraucht. Sie rief nach dem Hund und ging hinaus.
Dünn wie ein Strich, mit den Bewegungen einer uralten Frau, führte Louise Olive in das abgedunkelte Wohnzimmer. Sie knipste eine Lampe an, und Olive sah staunend, wie schön ihr Gesicht war. »Ich will Sie nicht anstarren«, sagte Olive - sie hatte keine Wahl, denn sie merkte, dass sie den Blick nicht von ihr würde losreißen können -, »aber Sie sehen wunderschön aus.«
»Finden Sie?« Louise stieß ein weiches Lachen aus.
»Ihr Gesicht.«
»Ach so.«
Es war, als hätten all ihre früheren Bemühungen um Attraktivität, das blondgefärbte Haar, der dicke rosa Lippenstift,
die sprudelnde Redeweise und Eleganz der Aufmachung, all die Perlen und Armreifen und schicken Schuhe, an die Olive sich erinnerte - als hätte all dies die wahre Louise nur verdeckt, die nun, von Kummer und Vereinsamung gezeichnet und im Zweifel randvoll mit Psychopharmaka, in ihrer Zerbrechlichkeit ein Gesicht von verblüffender Schönheit offenbarte. Denn wann sah man schon wirklich schöne alte Frauen, dachte Olive. Man sah - wenn überhaupt - letzte Spuren vergangener Schönheit, aber so gut wie nie das, was sie hier sah: diese braunen Augen, die von etwas Unirdischem zu leuchten schienen, eingesunken hinter Knochen, die so feinziseliert wirkten wie bei einer Skulptur, die Haut straff gespannt über dem Jochbein, die Lippen noch immer voll, das Haar weiß und mit einem schmalen braunen Band zur Seite gebunden.
»Ich habe Tee gekocht«, sagte Louise.
»Für mich keinen, aber danke.«
»Na schön.« Louise ließ sich
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