Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
gleichzeitig nicht stimmt. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Henry, wie er vor nicht ganz einem Jahr die Fußleisten in dem neuen Zimmer ausgemessen hat, wie er mit dem Zollstock auf allen vieren herumgerutscht ist und ihr die Maße diktiert hat. Um sich dann aufzurichten, ein hochgewachsener Mann. »Also, was ist, Ollie, fahren wir in die Stadt?« Auf der Fahrt - worüber haben sie da geredet? Oh, was würde sie darum geben, sich zu erinnern, aber sie erinnert sich nicht. Als sie vor dem Shop’n Safe parkten, um noch Milch und Saft zu holen nach dem Einkauf im Baumarkt, hat sie gesagt, sie will im Auto warten. Und das war das Ende ihres gemeinsamen Lebens. Henry stieg aus und fiel zu Boden. Stand nie wieder auf, ging nie wieder den Kiesweg zu ihrem Haus entlang, sprach nie wieder ein verständliches Wort; nur ab und zu schauten diese riesigen blaugrünen Augen sie aus dem Krankenhausbett an.
Dann wurde er blind; jetzt wird er sie niemals mehr sehen. »Viel verpasst du nicht«, hat sie ihm gesagt, wenn sie bei ihm saß. »Ein bisschen abgenommen hab ich, seit wir abends nicht mehr unsre Kräcker mit Käse essen. Aber ansonsten seh ich eher zum Fürchten aus.« Er hätte gesagt, das stimmt nicht. Er hätte gesagt: »Überhaupt nicht. Für mich siehst du wunderbar aus.« Er sagt nichts. An manchen Tagen wendet er nicht einmal den Kopf. Sie fährt jeden Tag hin und sitzt bei ihm. Du bist eine Heilige, sagt Molly Collins. Mein Gott, wie
dumm muss man sein? Eine alte Frau, die Angst hat, das ist sie; wenn es dunkel wird, ist es Zeit fürs Bett, mehr weiß sie nicht mehr. Irgendwie geht es immer. Sie ist nicht so sicher. Das wird sich erst noch herausstellen, denkt sie.
Eddie junior steht immer noch unten am Wasser und lässt Steine hüpfen. Die Cousins sind verschwunden, nur Eddie ist noch unten auf den Felsen. Einen Stein nach dem anderen wirft er. Es befriedigt Olive, wie viele Male er schafft, Hüpfer über Hüpfer, obwohl das Wasser mittlerweile nicht mehr glatt ist, und jedes Mal bückt er sich gleich wieder, sucht sich den nächsten Kiesel, wirft ihn.
Aber da ist Kerry, und wo kommt sie plötzlich her? Sie muss von der anderen Hausseite zum Ufer hinuntergelaufen sein, denn da balanciert sie in Strümpfen über die Felsen, schwankt auf den muschelbewachsenen Steinen, ruft nach Eddie. Was sie ihm zu sagen hat, passt ihm nicht. Das sieht Olive bis hierher. Er lässt weiter seine Kiesel springen, aber schließlich dreht er sich doch um und antwortet etwas. Kerry breitet die Arme aus, mit einer Geste, die fast etwas Flehendes hat, und Eddie junior schüttelt nur den Kopf, und nicht viel später kommt Kerry zurück, krabbelt über die Felsen herauf, sturzbetrunken. Sie könnte sich den Hals brechen, denkt Olive. Nicht dass Eddie junior das kümmern würde. Er wirft einen Stein, richtig fest diesmal, zu fest - er hüpft nicht, schlägt nur ins Wasser.
Olive bleibt lange so sitzen. Sie schaut übers Wasser, und am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung hört sie die Leute in ihre Autos steigen und wegfahren, aber ihre Gedanken sind bei Marlene Monroe, so jung, so schüchtern, wenn sie mit ihrem Liebsten nach Hause ging; wie glücklich muss sie gewesen sein, dort bei Crossbow Corners, während die Vögel zwitscherten und Ed Bonney vielleicht sagte: »O Mann, ich mag
mich gar nicht von dir trennen.« Die ersten Jahre nach der Hochzeit haben sie zusammen mit Eds Mutter hier gewohnt, so lange, bis die alte Mrs. Bonney starb. Wenn Christopher noch verheiratet wäre, keine fünf Minuten würde seine Frau Olive in ihrem Haus dulden! Und Christopher hat sich so verändert, dass er sie sicher auch nicht bei sich duldet - wenn Henry irgendwann stirbt und sie nicht weiterweiß. Er würde sie höchstens auf den Dachboden stecken, aber Christophers Haus in Kalifornien hat ja keinen Dachboden, hat er gesagt. Oder gleich an den Fahnenmast binden - aber Fahnenmast hat er natürlich auch keinen. So faschistisch, war Christophers Kommentar bei seinem letzten Besuch hier, als sie an der Bullock-Farm mit der gehissten Flagge davor vorbeifuhren. Wie kommt ein Mensch darauf, so etwas zu sagen?
Über ihr auf der Veranda Stolpergeräusche und dann eine lallende Stimme: »Tut mir leid, Marlene, wirklich wahr.« Und darauf das Murmeln von Marlene, die zu Kerry sagt, dass es jetzt Zeit ist, ins Bett zu gehen und sich auszuschlafen, und danach polternde Schritte die Verandastufen hinunter und neuerliche Stille.
Wieder im Haus, schiebt Olive sich
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