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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Könnten Sie die vielleicht mitnehmen? Nehmen Sie sie einfach mit und schmeißen sie weg. Und das Körbchen, in dem sie liegen, auch.«
    »Natürlich.«
    Ein paar Tränen rinnen Marlene an der Nase vorbei. Sie wischt sich mit der bloßen Hand übers Gesicht. »Ich mag den Schrank nicht aufmachen, solange ich weiß, dass sie da drinnen sind.«
    »Ja«, sagt Olive. »Das mach ich gerne.« Sie hat Henrys Schuhe aus dem Krankenhaus mitgenommen und sie in einer
Tüte in die Garage gelegt, und da liegen sie heute noch. Es waren neue Schuhe, er hatte sie erst ein paar Tage, als sie zum letzten Mal vor dem Shop’n Safe parkten.
    »Ich kann auch noch mehr mitnehmen, Marlene.«
    »Nein. Nein, Olive. Es ist nur, weil wir immer dasaßen und so getan haben, als könnten wir zusammen irgendwo hinreisen.« Marlene schüttelt den Kopf. »Selbst nachdem uns Dr. Stanley gesagt hatte, wie es steht, haben wir diese Broschüren durchgeschaut und über die Reisen geredet, die wir machen wollten, wenn er wieder gesund ist.« Sie reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ach, Olive.« Marlene hört auf und sieht das Messer an, das Olive in der Hand hält. »Ach, Mist, Olive. Ich schäme mich so.« Und sie schämt sich offenbar wirklich; ihre Wangen verfärben sich von einem tiefen Rosa zu noch tieferem Rot.
    »Ach, woher denn«, beschwichtigt Olive sie. »Das hat jeder schon erlebt, dass er jemanden am liebsten umbringen will.« Olive ist nur zu bereit, die diversen Leute aufzuzählen, die sie gern umbringen möchte, falls es Marlene interessiert.
    Aber Marlene sagt: »Nein, nicht das. Nicht das. Nein, dass ich bei ihm gesessen bin und wir diese Reisen geplant haben.« Sie zerrt an dem Kleenex, das schon völlig zerfetzt ist. »Mein Gott, Olive, es war, als würden wir ernsthaft dran glauben. Und da lag er und nahm immer mehr ab, so schwach war er - ›Marlene, hol unser Reisekörbchen her‹, hat er immer gesagt. Und ich hab’s ihm gebracht. Ich schäme mich so, wenn ich jetzt daran denke, Olive.«
    Unschuld, denkt Olive und starrt die Frau an. Richtige, echte Unschuld. So etwas findet man heute doch gar nicht mehr. So etwas ist doch nicht mehr existent.
    Olive steht auf und geht zu dem Fenster über dem kleinen Ausguss, von dem man auf die Einfahrt hinuntersieht. Die letzten Gäste brechen auf; Matt Grearson steigt in seinen
Pick-up, stößt zurück, fährt los. Und hier kommt Molly Collins mit ihrem Mann, in ihren flachen Pumps marschiert sie über den Kies; sie hat einen vollen Tag lang geschuftet, das muss man ihr lassen, denkt Olive, sie hat ihr Bestes gegeben. Eine Frau mit künstlichem Gebiss und einem alten Ehemann - der, ehe sie sich’s versieht, tot sein kann wie die anderen alle oder, schlimmer noch, im Rollstuhl neben Henry sitzen.
    Sie möchte Marlene erzählen, wie sie und Henry früher von den Enkelkindern geredet haben, die sie einmal bekommen würden, von den frohen Weihnachtsfesten mit ihrer netten Schwiegertochter. Wie sie noch vor gut einem Jahr bei Christopher drüben zum Essen waren und die Luft so dick war, dass man sie mit dem Messer schneiden konnte, und trotzdem haben sie sich beim Nachhausekommen versichert, was für ein nettes Mädchen sie doch sei und welch ein Glück doch Christopher mit dieser netten Frau habe.
    Wer, wer hat nicht sein Reisekörbchen? Es ist einfach nicht gerecht. Das hat Molly Collins heute gesagt, als sie vor der Kirche standen. Es ist nicht gerecht. Nein. Ist es auch nicht.
    Sie würde Marlene gern übers Haar streichen, aber das gehört nicht zu den Dingen, die Olive sonderlich gut kann. Also geht sie nur zurück und stellt sich neben Marlenes Stuhl und schaut durch das Seitenfenster hinunter zum Ufer, das jetzt, wo das Wasser ganz draußen ist, als breiter Streifen daliegt. Im Geist sieht sie wieder Eddie junior, wie er seine Kiesel hüpfen lässt, und undeutlich erinnert sie sich, was für ein Gefühl das war: so jung zu sein, dass man einen Kiesel aufheben und ihn hinausschleudern konnte aufs Meer, noch jung genug zu sein, um diesen verfluchten Stein zu werfen.

Flaschenschiff

    »Du musst mehr Struktur in deinen Tag bringen«, sagte Anita Harwood und wischte noch einmal über die Arbeitsplatte. »Ganz im Ernst, Julie. Genau deshalb schnappen die Leute doch über, wenn sie im Gefängnis oder beim Militär sind.«
    Winnie Harwood, die elf war, zehn Jahre jünger als ihre Schwester, beobachtete Julie, die am Türrahmen lehnte und zu Boden starrte, noch immer in dem roten

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