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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Kerry und berührt ihren bloßen Hals. »Ist das hier nicht irgendeine wichtige Arterie?«, fragt sie und legt die Klinge flach an Kerrys Hals, stupst sogar ganz leicht gegen die Stelle, wo undeutlich der Puls zuckt.
    »Doch. Ähm, da wär ich jetzt ein bisschen vorsichtig.« Olive beugt sich vor.
    Ein paar Sekunden, dann seufzt Marlene, lehnt sich zurück. »Na gut, hier.« Und sie gibt das Schälmesser Olive.
    »Ich würd ja ein Kissen nehmen«, sagt Olive. »Die Kehle durchschneiden macht so eine Sauerei.«
    Marlene lässt ihr tiefes, weiches Kichern hervorgluckern. »An ein Kissen hab ich noch gar nicht gedacht.«
    »Ich habe viel Zeit, über Kissen nachzudenken«, sagt Olive, aber Marlene nickt abwesend, als würde sie nicht richtig zuhören.
    »Mrs. Kitteridge, wussten Sie davon?«
    »Wovon?«, fragt Olive, und in ihrem Magen rührt sich plötzlich etwas, kleine Wellen wippen darin.
    »Was Kerry mir heute erzählt hat? Sie sagt, sie und Ed hätten es nur einmal gemacht. Nur das eine Mal. Aber das glaube ich nicht. Es muss öfter gewesen sein. In dem Sommer, als Ed junior mit der Schule fertig war.« Marlene hat zu weinen begonnen, sie schüttelt den Kopf. Olive wendet den Blick ab; eine Frau braucht ihre Privatsphäre. Sie hält das Schälmesser auf dem Schoß und schaut zu dem Fenster überm Bett hinaus, nichts als grauer Himmel und graue See; um das Ufer zu sehen, sind sie zu hoch oben, nur graues Wasser und Himmel da draußen, so weit das Auge reicht.

    »Ich hab davon nie was gehört«, sagt Olive. »Wieso beichtet sie das ausgerechnet heute?«
    »Dachte, ich wüsste es.« Marlene hat von irgendwoher ein Kleenex zum Vorschein gebracht, aus ihrem Ärmel vielleicht, und tupft sich damit im Gesicht herum, putzt sich die Nase. »Sie dachte, ich hätte es von Anfang an gewusst, und ich wäre nur deshalb noch weiter nett zu ihr gewesen, um sie zu bestrafen. Und als sie dann heute betrunken war, sagte sie plötzlich, wie gut ich es ihr heimgezahlt hätte, weil ich sie und Ed nämlich durch Freundlichkeit fertiggemacht hätte.«
    »Heiliger Strohsack«, ist das Einzige, was Olive hierauf einfällt.
    »Ist das nicht zu komisch, Olive?« Wieder, aus dem Nichts heraus, Marlenes kehliges Kichern.
    »Na ja«, sagt Olive. »Ich hab schon komischere Sachen gehört.«
    Olive schaut auf Kerrys schwarzgekleideten Körper, der da auf dem Bett ausgestreckt liegt, und wünscht sich eine Tür herbei, die sie schließen, einen Vorhang, den sie vorziehen könnten, um nicht die Wölbung dieses Gesäßes sehen zu müssen, diese schwarzen Strumpfhosen, die die schlanken Waden hervorheben. »Weiß Eddie junior es?«
    »Ja. Ihm hat sie’s offenbar gestern erzählt. Dachte, dass er es auch weiß, aber er sagt, er wusste es nicht. Er sagt, er glaubt nicht, dass es stimmt.«
    »Vielleicht stimmt’s ja auch nicht.«
    »Scheiße«, sagt Marlene und schüttelt den Kopf, wieder unter Tränen. »Mrs. Kitteridge, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt sehr gern einfach Scheiße sagen.«
    »Nur zu«, sagt Olive, die das Wort selbst nie in den Mund nimmt.
    »Scheiße«, sagt Marlene. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
    »Allerdings.« Olive holt tief Atem. »Allerdings«, sagt sie
noch einmal. Sie schaut ohne sonderliche Neugier um sich - an einer Wand hängt ein Bild mit einer Katze darauf -, und ihr Blick kehrt zu Marlene zurück, die ihr Kleenex an die Nase presst. »Ach je, was für ein Tag. Oben spucken sie, unten rauchen sie.« Die Frau mit den langen grauen Haaren hat Olive richtiggehend erschüttert: Seismische Erschütterungen ist die Formulierung, zu dem sich das Nebelgrau in ihrem Kopf formt. Sie sagt: »Diese Person, die Christophers Haus gekauft hat, läuft herum und drückt ihre Zigaretten in den Zimmerpflanzen hier aus.«
    »Ach, die«, sagt Marlene. »Das ist auch so ein Scheißweib.«
    »Allerdings.« Das muss sie morgen Henry erzählen. Sie wird ihm die ganze Geschichte erzählen, auch wenn es ihm nicht gefallen wird, das Wort Scheiße zu hören.
    »Olive, könnte ich Sie wohl um einen Gefallen bitten?«
    »Sehr gern.«
    »Könnten Sie vielleicht …« Und die arme Frau sieht so verloren aus, als sie das sagt, so hilflos in ihrem grünen Blümchenkleid, mit dem braunen Haar, das überall aus den Nadeln und Spangen herausrutscht. »Bevor Sie gehen, könnten Sie da noch im Schlafzimmer vorbeischauen? Gleich rechts, wenn Sie die Treppe raufkommen. Im Kleiderschrank sind Broschüren, mit allen möglichen Reisezielen.

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