Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Mrs. Kitteridge zu ihr zu sagen; das geht vielen ehemaligen Schülern von ihr so. Und umgekehrt ist es natürlich das Gleiche, Olive sieht die halbe Stadt nach wie vor als Kinder, auch Ed Bonney und Marlene Monroe sieht sie noch so vor sich: zwei frisch verliebte High-School-Kinder, die Tag für Tag zusammen von der Schule heimgingen. Wenn sie bei Crossbow Corners angekommen waren, blieben sie stehen und redeten, und manchmal sah Olive sie um fünf noch dort, denn Marlene musste in die eine Richtung und Ed in die andere.
Tränen sind Marlene in die Augen getreten, und sie blinzelt heftig. Sie beugt sich zu Olive und flüstert: »Kerry sagt, Heulsusen kann keiner leiden.«
»Blödsinn«, erwidert Olive.
Aber Marlene richtet sich rasch wieder auf, denn nun erscheint Kerry im Zimmer, spindeldürr, mit hochhackigen Schuhen; sie schiebt ihr schwarzgewandetes Becken vor, kaum dass sie stillsteht, und es schießt Olive durch den Kopf, dass Kerry vielleicht einiges aushalten musste als kleines Mädchen, mageres Dingelchen, das sie ist. »Magst du ein Bier, Marlene? Statt diesem Kaffee?« Sie hat selber ein Bier in der Hand, den Ellbogen in die Hüfte gestützt, und ihre dunklen Augen nehmen mit scharfem Blick alles wahr: Marlenes
unberührte Kaffeetasse, Olive Kitteridge - Olive, die Kerry seinerzeit mehr als einmal zum Schuldirektor geschickt hat, bevor das Mädchen wegkam, zu irgendwelchen Verwandten. »Oder vielleicht einen kleinen Whiskey?«
Henry würde wahrscheinlich wissen, warum Kerry weggegeben wurde. Olive war immer schlecht darin, sich solche Dinge zu merken.
»Ein Schluck Whiskey klingt gut«, sagt Marlene. »Möchten Sie auch einen, Olive?«
»Nein. Danke.« Wenn sie trinken würde, dann richtig. Sie hält sich fern von dem Zeug, immer schon. Ob Christophers Exfrau wohl heimlich trinkt, überlegt sie, sich heimlich mit kalifornischen Weinen zuschüttet?
Das Haus füllt sich. Die Leute müssen in den Flur ausweichen, sogar auf die Veranda. Ein paar von den Fischern aus Sabbatus Cove sind gekommen, alle im Sonntagsstaat. Mit hängenden Schultern stiefeln sie ins Wohnzimmer, wo sie leicht bedröppelt herumstehen mit diesen Mini-Brownies in den riesigen Pranken. Schon bald ist das Wohnzimmer so voll, dass Olive das Meer nicht mehr sehen kann. Röcke schieben sich an ihr vorbei, Gürtelschnallen. »Ich wollte dir nur kurz sagen, Marlene« - und hier, in einer plötzlichen Lichtung in dem Gedränge, ist Susie Bradford und stößt in die Lücke zwischen Couchtisch und Couch -, »dass er so tapfer war in seiner Krankheit. Ich habe ihn kein einziges Mal klagen gehört.«
»Nein«, sagt Marlene. »Er hat nicht geklagt.« Und dann: »Er hatte ja seinen Reisekorb.« Zumindest versteht Olive es so. Was immer es war, es ist Marlene ganz offenbar peinlich. Olive sieht, dass sie glühend rot wird, als hätte sie gerade ein hochintimes, sorgsam gehütetes Geheimnis preisgegeben, das sie und ihr Mann miteinander hatten. Aber Susie Bradford hat sich mit Marmelade von einem der Kekse bekleckert,
und jetzt sagt Marlene: »Oje, Susie, das Bad ist gleich dort im Gang. So eine hübsche Bluse, was für ein Jammer.«
»Wo sind denn hier die Aschenbecher?«, fragt eine Frau, die sich an Olive vorbeischiebt, und weil es einen kleinen Stau gibt, steckt die Frau einen Moment neben Olive fest; sie zieht lange an ihrer Zigarette und macht die Augen schmal gegen den Rauch. In Olive klickt etwas ganz leise, irgendeine Erinnerung, ein Erkennen, aber sie könnte nicht sagen, wer die Frau ist - sie weiß nur, dass sie ihr unsympathisch ist mit ihrem langen strähnigen Haar, durch das sich sehr viel unkleidsames Grau zieht. Wenn die Haare grau werden, denkt Olive, dann ist es Zeit, sie abzuschneiden oder zu einem Knoten hochzustecken; wozu so tun, als wäre man noch ein Schulmädchen? »Im ganzen Haus ist kein Aschenbecher zu finden«, sagt die Frau und legt den Kopf kurz in den Nacken, um einen Rauchstrom auszupusten.
»Tja«, sagt Olive, »so was Dummes aber auch.« Und die Frau rückt weiter.
Die Couch kommt wieder in Sicht. Kerry Monroe trinkt aus einem Wasserglas mit einer braunen Flüssigkeit - der Whiskey, den sie vorhin angeboten hat, so Olives Verdacht -, und auch wenn Kerrys Lippenstift leuchtet wie zuvor, auch wenn Backenknochen und Kinnlade unverändert scharf konturiert sind, wirkt es, als hätten ihre Gelenke unter den schwarzen Kleidern zu schlackern begonnen. Ihr übergeschlagenes Bein baumelt, ein Fuß wippt, irgendetwas
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