Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
einen Brownie in den Mund und macht sich auf die Suche nach der Toilette. Als sie herauskommt, steht da die Frau mit den langen grauen Haaren und steckt ihren Zigarettenstummel in eine Topfpflanze, die auf einem Tischchen im Gang steht. »Wer sind Sie?«, sagt Olive, und die Frau starrt sie an. »Wer sind Sie ?«, fragt die Frau zurück, und Olive geht an ihr vorbei. Das ist die Frau, die Christophers Haus gekauft hat, wird ihr schlagartig klar. Diese Person, die nicht einmal den Anstand besitzt, eine arme Topfpflanze zu respektieren, geschweige denn all das, wofür Olive und Henry gearbeitet haben - das schöne Haus ihres Sohnes, in dem ihre Enkelkinder groß werden sollten.
»Wo ist Marlene hin?«, fragt Olive Molly Collins, die immer
noch Marlenes Schürze anhat und wichtig im Wohnzimmer herumläuft und Teller und zusammengeknüllte Papierservietten einsammelt. Molly sieht über die Schulter und sagt unbestimmt: »Gott, ich weiß auch nicht.«
»Wo ist Marlene?«, fragt Olive Susie Bradford, die als Nächstes vorbeikommt, und Susie sagt: »Wird schon irgendwo sein.«
Antwort bekommt sie schließlich von Eddie junior. »Kerry hat sich betrunken, und Mom ist drüben und bringt sie ins Bett.« Das sagt er mit einem finsteren Blick auf Susie Bradfords Rücken, und Olive mag ihn immer lieber. Diesen Jungen hatte sie nicht mehr als Schüler. Sie hat ein paar Jahre früher aufgehört zu unterrichten, um mehr Zeit für ihre Familie zu haben. Christopher in Kalifornien. Henry drüben in Hasham im Heim. Alle weg. Versunken im Orkus.
»Danke«, sagt sie zu Eddie junior, dessen junge Augen ihren eigenen Blick in den Orkus getan zu haben scheinen.
Von einem strahlenden Apriltag kann keine Rede mehr sein. Der Nordostwind, der seitlich gegen das Haus der Bonneys bläst, hat die Wolken hergebracht, und jetzt hängt über der Bucht ein bleigrauer Himmel wie im November, und die Brandung klatscht unaufhörlich an die dunklen Felsen und wirbelt Seetang heran, der sich in klumpigen Strähnen an den Felszacken fängt. Bis zum Ende der Landzunge sieht die Küstenlinie kahl aus, fast winterlich, das einzige Grün liefern die spillerigen Fichten und Kiefern; für Laub ist es noch zu früh, selbst die Forsythie gleich beim Haus knospt erst.
Auf ihrer Suche nach Marlene steigt Olive Kitteridge über einen zermatschten Krokus neben der Seitentür der Garage. Letzte Woche, nach diesem Tag, der so warm war, dass sie auf dem Parkplatz den Hund zu Henry bringen konnte, hat es geschneit, Berge von glitzerndem Weiß, wie sie so typisch
sind für den April - alles am Tag darauf weggeschmolzen, aber der Boden ist stellenweise noch durchweicht nach dem Blitzangriff, und dieser glasig-gelbe Krokus erholt sich nicht mehr. Gleich hinter der Seitentür führt eine Treppe nach oben, und Olive steigt sie vorsichtig hoch, hält auf dem Treppenabsatz inne; zwei Sweatshirts hängen an Haken, und darunter stehen zwei schlammverkrustete gelbe Gummistiefel, deren Spitzen voneinander weg zeigen.
Olive klopft an die Tür, den Blick auf die Stiefel gerichtet. Sie bückt sich, stellt den einen auf die andere Seite, so dass sie zusammengehörig aussehen, wie ein Paar, und klopft noch einmal. Keine Antwort, also dreht sie den Knauf, drückt die Tür auf, geht hinein.
»Hallo, Olive.«
An der gegenüberliegenden Wand, mit dem Gesicht zu ihr, sitzt Marlene wie ein gehorsames Schulmädchen auf einem Stuhl neben Kerrys Doppelbett, die Hände im Schoß gefaltet, die drallen Fußgelenke adrett gekreuzt. Auf dem Bett hingegossen liegt Kerry. Sie liegt auf dem Bauch, so selbstvergessen, als würde sie ein Sonnenbad nehmen, Gesicht zur Wand, Ellbogen abgewinkelt, aber mit einer leichten Drehung in der Hüfte, so dass die schwarze Kontur des Kostüms die Wölbung ihres Gesäßes betont, und ihre schwarzbestrumpften Beine schimmern, auch wenn die Sohlen nur noch aus Laufmaschen bestehen.
»Schläft sie?«, fragt Olive und kommt ein paar Schritte näher.
»Umgekippt«, sagt Marlene. »Hat erst Eddies Zimmer vollgekotzt, und jetzt liegt sie hier.«
»Verstehe. Ein hübsches Zimmer hat sie hier.« Olive geht zu der kleinen Essnische und holt einen Stuhl, den sie zu Marlene stellt.
Eine Zeitlang schweigen beide Frauen, dann sagt Marlene
leichthin: »Ich habe überlegt, ob ich Kerry nicht umbringen soll.« Sie nimmt eine Hand vom Schoß, und auf ihrem grünen Blümchenkleid liegt ein kleines Schälmesser.
»Oh«, sagt Olive.
Marlene neigt sich über die schlafende
Weitere Kostenlose Bücher